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Izkia Siches
Links, Feministin, Ärztin

9. September 2020 | Von Sophia Boddenberg
Izkia Siches liegt in den Umfragen für die Präsidentschaftswahl 2021 weit vorne – obwohl sie gar nicht kandidiert. Foto: Colegio Médico

Monatelang protestierten die Chilen*innen auf den Straßen – dann kam Corona. Während kaum noch jemand den alten Männern in der Regierung vertraut, wird eine junge Ärztin immer beliebter. Das Porträt ist der letzte Teil unserer Virolog*innen-Serie.

Sophia Boddenberg, Santiago de Chile

Izkia Siches hat sich das Vertrauen der Chilen*innen erarbeitet. Im November 2019 protestieren bereits seit einem Monat Millionen im ganzen Land gegen die Regierung und das neoliberale Wirtschaftsmodell. Gleichzeitig steigt die Zahl der Opfer von Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und Sicherheitskräfte in die Tausende. In dieser Zeit spricht Siches in einer Kommission des Kongresses vor, in der eine Verfassungsklage gegen den Innenminister beraten wird.

Sie trägt dabei eine Schutzbrille, um deutlich zu machen, dass eine solche Ausrüstung notwendig ist, um sich bei den Protesten vor den Schüssen der Polizei zu schützen. Mehr als 200 Demonstrant*innen wurden zu diesem Zeitpunkt bereits von Gummigeschossen in die Augen getroffen. Viele von ihnen haben deshalb teilweise oder vollständig ihr Augenlicht verloren.

Eine Studie hat gezeigt, dass die Geschosse gar nicht aus Gummi, sondern zum Großteil aus Blei bestehen. Siches fordert vor der Kommission, dass die Polizei diese Munition bei den Protesten nicht mehr verwendet. Mit Erfolg: Innenminister Chadwick wird wegen seiner Verantwortung für die Menschenrechtsverletzungen abgesetzt und die Carabineros schränken noch am selben Tag den Einsatz der gefährlichen Geschosse ein.

Die erste Frau an der Spitze der Ärztekammer

Izkia Siches ist 34 Jahre alt und wurde 2017 von den Mitgliedern der chilenischen Ärztekammer Colegio Médico als jüngste Ärztin und als erste Frau zur Präsidentin gewählt. Die Ärztekammer hat politisches Gewicht in Chile und einen starken Einfluss nicht nur im Gesundheitsbereich, sondern in der gesamten Gesellschaft. Über 70 Jahre lang war die Spitze des einflussreichen Gremiums von Männern besetzt. „Die Präsidenten waren immer weiße, konservative Männer. Ich bin eine Frau, links, dunkelhäutig, aus Arica, halb Aymara, mit kleinen Augen und bin auf eine Schule gegangen, die niemand kennt“, sagte Siches 2019 der Zeitung La Segunda. Ihre Wahl zur Präsidentin sei ein „wichtiger Bruch“ gewesen.

 

Diese Recherche wurde mit Mitteln des WPK-Recherchefonds gefördert. Das Porträt ist der letzte Teil einer Serie von sechs internationalen Virolog*innen, die wir Ihnen seit Juni vorgestellt haben. Wir möchten damit den Blick weiten und aufzeigen, welche Wissenschaftler*innen in anderen Ländern tonangebend sind und den öffentlichen Diskurs maßgeblich mitbeeinflussen.

 

Geboren wurde Siches 1986 in Arica in der Nähe der peruanischen Grenze. Als sie drei Jahre alt war, zog sie mit ihrer Familie nach Maipú, eine Gemeinde am Stadtrand von Chiles Hauptstadt Santiago. Während des Medizinstudiums war sie bei den Juventudes Comunistas (Kommunistische Jugend) politisch aktiv. Wenn sie in Interviews nach ihrer politischen Ausrichtung gefragt wird, bezeichnet sie sich zwar als „links“, ordnet sich aber keiner politischen Partei zu. Persönliche Interviews gibt sie nur selten. In einem Gespräch mit dem chilenischen Fernsehsender Canal 13 gibt sie ein paar Details über sich preis: Sie tanze leidenschaftlich gerne Salsa. Ihre Schwester sei auch Ärztin und ihre Mutter arbeite im Gesundheitswesen. „Meine Mutter und meine Schwester sind meine Vorbilder“, sagt sie.

Feministische Agenda in der Ärztekammer

Gemeinsam mit ihrer Schwester arbeitet Siches im öffentlichen Krankenhaus San Juan de Dios in der Hauptstadt Santiago. Ihre Erfahrungen im medizinischen Alltag haben sie zur Feministin gemacht. „Die Männer werden sofort Doktor genannt – auch wenn sie gerade erst mit dem Medizinstudium fertig sind. Uns hingegen nennen sie Señoritas bis wir weiße Haare haben. Es wird so dargestellt, als hätten die männlichen Kollegen mehr Wissen als wir, nur weil sie Männer sind“, sagt sie der Zeitung La Tercera.

Izkia Siches (Mitte) spricht mit Schutzbrille im Kongress vor (Foto: Colegio Médico).

Seit sie Präsidentin der Ärztekammer ist, hat Siches eine feministische Agenda durchgesetzt: Sie hat eine Gender-Abteilung gegründet, die Beteiligung von Frauen im Gremium unterstützt, das Thema Frauengewalt als Gesundheitsproblem in die Diskussion gebracht, Missbrauch, Belästigung und Gewalt bei der Geburtshilfe sichtbar gemacht. Am Weltfrauentag am 8. März nahm die Ärztekammer unter Siches’ Führung zum ersten Mal gemeinsam als Gremium mit Männern und Frauen am Protestmarsch teil. „Ich bin Feministin und ich hoffe, dass die Ärztekammer und das ganze Land feministisch werden“, sagt sie bei Canal 13.

Am Weltfrauentag 2018 wurde sie mit dem Preis Eloísa Díaz Insunza der Ärztekammer für ihr Engagement ausgezeichnet. Als Präsidentin der Ärztekammer unterstützt sie aktiv die Protestbewegung. Sie setzt sich für ein starkes öffentliches Gesundheitssystem ein – eine der Forderungen der Demonstrant*innen. Der unternehmennahen Stiftung Centro de Estudios Públicos zufolge befindet sich das Vertrauen in die staatlichen Institutionen im Januar 2020 im Keller: Nur drei Prozent der Chilen*innen vertrauen dem Kongress, zwei Prozent den politischen Parteien und nur sechs Prozent bewerten den Präsidenten positiv – keine gute Grundlage für die Bekämpfung einer Pandemie. Im März 2020 gibt es den ersten Covid-19-Fall in Chile. Die Regierung spielt die Gefahr zunächst herunter und ergreift keine Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung.

„Nicht weiter gegen eine Wand anreden”

Siches hingegen macht auf sozialen Netzwerken auf die Gefahr des Virus aufmerksam. Sie fordert einen Lockdown und mehr Transparenz von der politischen Spitze, um das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen zurückzugewinnen und die Pandemie zu bewältigen. Bei einer Pressekonferenz im Regierungspalast La Moneda sagt sie: „Die Daten sind unvollständig, inkonsistent und zeigen eine enorme Intransparenz, die man noch nie in der institutionellen Geschichte des chilenischen öffentlichen Gesundheitssystems gesehen hat.“

Siches bittet die Regierung um Zusammenarbeit mit der Ärztekammer und anderen Expert*innen aus Wissenschaft und Gesundheit – mit Erfolg: Wenige Tage später wird die Expert*innengruppe Mesa Social Covid 19 einberufen, um das Gesundheitsministerium zu beraten. Siches ist Teil davon. Am 26. März beginnt der Lockdown in der Hauptstadt Santiago, weitere Regionen folgen.

Auch im chilenischen Gesundheitsministerium muss Siches sich gegen alte weiße Männer durchsetzen. Gesundheitsminister Jaime Mañalich wurde 2015 aus ethischen Gründen aus der Ärztekammer entlassen. Er will die Krise im Alleingang bewältigen. Die Vorschläge der Beratungsgruppe ignoriert er. Während die Zahl der Infizierten in die Höhe schießt und die Expert*innen den Peak für Juni ausrechnen, kündigt er bereits im April eine „neue Normalität“ an. „Sie können jetzt wieder einen Kaffee trinken gehen“, sagt seine Mitarbeiterin bei einer Pressekonferenz.

Als Präsidentin der Ärztekammer empört sich Siches immer wieder über das Krisenmanagement der Regierung und bezeichnet es als Fiasko. „Wir können nicht weiter gegen eine Wand anreden. Wir brauchen eine neue Form des Regierens“, sagt sie bei einer Pressekonferenz. „Um mit objektiven Daten zu sprechen und die Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung zurückzuerlangen, braucht man die nötigen Informationen. Wir glauben, dass das Gesundheitsministerium Informationen zurückhält.“ Die Journalistin Alejandra Matus deckt wenig später auf, dass die Regierung zu niedrige Zahlen der Corona-Todesfälle veröffentlicht hat.

Im Juni wird Chile zum Land mit der höchsten Covid-19-Rate pro 100.000 Einwohner*innen der Welt und zu einem der Länder Lateinamerikas mit den meisten Infizierten. Am 13. Juni ernennt Piñera Enrique Paris zum neuen Gesundheitsminister, Ex-Präsident der Ärztekammer. Aber auch er schafft es nicht, das Vertrauen der Chilen*innen zurückzugewinnen. Izkia Siches wird hingegen von mehr als 60 Prozent der Bevölkerung positiv bewertet. Damit erhält sie bessere Werte als alle Politiker*innen.

Vor der Pandemie hatte sie 20.000 Follower auf Twitter, inzwischen sind es mehr als 300.000. „Siches ist ein junges Gesicht, das die Glaubwürdigkeit ihres Gremiums und der Ärzte verkörpert. Sie steht im Gegensatz zu den diffusen und intransparenten Informationen der Regierung und vertritt keine persönlichen Interessen, sondern das öffentliche Interesse“, sagt der Soziologe Axel Calís der Zeitung El Mostrador. Immer lauter werden Stimmen, die Siches als Präsidentin vorschlagen. In den Umfragen für die kommende Präsidentschaftswahl 2021 liegt sie weit vorne – obwohl sie gar nicht kandidiert.

Rassistische und sexistische Angriffe

Aber nicht nur ihre Beliebtheit steigt, auch die Angriffe auf sie nehmen zu, vor allem in den sozialen Netzwerken. Rechte beleidigen sie, weil sie eine „dreckige Kommunistin“ sei, Rassist*innen bezeichnen sie wegen ihrer indigenen Wurzeln als „Indianerin“ oder „Putzfrau“. Sogar Morddrohungen hat sie erhalten. Zwei Verdächtige wurden im August von der Kriminalpolizei festgenommen. Sie hatten Siches per E-Mail beleidigt, ihr sexualisierte Gewalt und Mord angedroht.

Die Anwältin Yanira Zúñiga hat eine Kolumne über die Misogynie geschrieben, die Siches wegen ihrer Präsenz in der Öffentlichkeit erfährt. Misogynie, also Frauenhass, richte sich nicht gegen alle Frauen, sondern vor allem gegen diejenigen, die patriarchale Normen brechen, zum Beispiel traditionelle Männerpositionen einnehmen und sich nicht passiv und still verhalten, schreibt Zúñiga.

Schon die Tatsache, dass Siches in den Medien meistens mit ihrem Vornamen benannt werde, während der Gesundheitsminister stets „Doktor Paris“ heiße, sei diskriminierend. „Die wachsende Beliebtheit von Izkia Siches und die Möglichkeit, dass sich ihre Glaubwürdigkeit in eine Präsidentschaftskandidatur verwandeln kann, wird von Mitgliedern der Regierung und von anderen konservativen Kreisen gefürchtet. Die Anfeindungen, die sie erlebt, stehen in direkter Beziehung zu ihrem Potenzial als politische Figur“, schreibt Zúñiga.

Eine Ärztin als Präsidentin, das weckt bei vielen Erinnerungen an die Regierung von Salvador Allende, dem ersten demokratisch gewählten sozialistischen Präsidenten der Geschichte. Auch Allende war Arzt und mit seiner Regierungskoalition Unidad Popular schaffte er in den 1970er Jahren ein staatliches Gesundheitssystem. Sein Ziel: Alle Chilen*innen sollten Zugang zur Gesundheitsversorgung haben.

Aber im Zuge der neoliberalen Reformen während der Pinochet-Diktatur (1973 – 1990) wurden die staatlichen Investitionen stark gekürzt und ein privates System eingeführt. Seitdem gibt es eine Zwei-Klassen-Medizin in Chile. Nur wer es sich leisten kann, erhält eine qualitativ gute Gesundheitsversorgung. Die Coronavirus-Pandemie hat verdeutlicht, wie gefährlich ein unterfinanziertes staatliches Gesundheitssystem sein kann. Siches will das ändern. Das Präsident*innenamt interessiert sie jedoch weniger.

Wenn sie von Journalist*innen gefragt wird, ob sie sich vorstellen könnte, Präsidentin zu werden, winkt sie ab. „Es gibt einen starken Hunger nach neuen Führungspersonen, die nicht aus den traditionellen Parteien kommen. Aber wir brauchen tiefgründigere Diskussionen. Ich kann nicht alle Probleme dieses Landes lösen. Ich habe eine Gesundheitsagenda und da gibt es viel zu tun. Wenn wir einen starken Staat hätten, könnten wir die nächste Pandemie besser bewältigen. Wir brauchen ein modernes staatliches Gesundheitssystem.“

Das ist auch eine der Forderungen der Protestbewegung, die durch den Aufstand im Oktober 2019 entstanden ist. Am 25. Oktober 2020 stimmen die Chilen*innen in einem Referendum darüber ab, ob sie sich von der Verfassung aus der Pinochet-Diktatur verabschieden möchten. Im dann darauf folgenden neuen verfassungsgebenden Prozess wird die Debatte über die Gesundheitsversorgung vermutlich eine zentrale Rolle einnehmen. Die Führungsrolle von Izkia Siches geht deshalb weit über die Corona-Krise hinaus, obwohl – oder vielleicht gerade weil – sie keine Politikerin ist.

 

Weitere Artikel unserer 6-teiligen Virolog*innen-Serie: 

Teil 1: Dmitrij Konstantinowitsch Lwow (Russland)

Teil 2: Peter Piot (Belgien)

Teil 3: Ilaria Capua (Italien)

Teil 4: Ana Lucia de la Garza (Mexiko)

Teil 5: Cillian de Gascun (Irland)

 

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Von Sophia Boddenberg, Santiago de Chile

Sophia Boddenberg berichtet als freie Journalistin für Radio, Online und Print aus Chile und beschäftigt sich mit Themen rund um Frauenrechte und soziale und politische Bewegungen auf dem lateinamerikanischen Kontinent. Sie hat Journalistik studiert und ein Masterstudium in Sozial- und Politikwissenschaften Lateinamerikas in Santiago de Chile absolviert. Mehr unter: http://sophiaboddenberg.com.

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Eva TempelmannMünster / Lima
Bis zu 40 Prozent der Frauen machen bei der Geburt ihrer Kinder gewaltvolle, teils traumatische Erfahrungen im Kreißsaal. Lena Högemann wirft in ihrem Buch „So wollte ich mein Kind nicht zur Welt bringen“ einen feministischen Blick auf die Geburtshilfe und zeigt Wege auf für mehr Selbstbestimmung.

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