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Ilaria Capua
Rückkehr einer Angeklagten

29. Juli 2020 | Von Helen Hecker
Fotos: Isabella Balena

Seit sie das afrikanische Vogelgrippevirus entschlüsselt hat, zählt Ilaria Capua zu einer der bekanntesten Virolog*innen der Welt. In ihrem Heimatland Italien wurden ihre wissenschaftlichen Errungenschaften jedoch nicht immer mit Ruhm geehrt. Die Zukunft der Forschung sieht sie in Big Data und nachhaltigem Handeln.  

Von Helen Hecker, Palermo

Beinahe hypnotisierend hallt ihre Stimme am anderen Ende des Hörers wider. Temperamentvoll und bestimmt platziert Ilaria Capua jedes ihrer Worte mit der Präzision einer Chirurgin. Dabei sind ihr Spezialgebiet keineswegs operative Eingriffe. Die italienische Veterinärmedizinerin zählt zu einer der einflussreichsten Virolog*innen weltweit. Und das, obwohl sie dem Labor seit geraumer Zeit Lebewohl gesagt hat. Den Stempel ihres Metiers kann sie jedoch nicht so einfach wegwischen. Seit Beginn der Corona-Krise war ihre Meinung erneut gefragter denn je. Dazwischen liegen jedoch bittere Jahre der Enttäuschung.

 

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An einem versteckten Ort in Umbrien, dem immergrünen Herzen Italiens, nimmt sich die 54-Jährige momentan eine Auszeit. Nach turbulenten Monaten während des Lockdowns kehrt die gebürtige Römerin genau dorthin zurück, wo alles angefangen hat. Hier will sie tief durchatmen und die Landschaft, das gute Essen und die Kultur ihres Heimatlandes genießen. Die Beziehung zu Italien bleibt gleichwohl zwiegespalten. Bis vor einigen Wochen konnten Italiener*innen die preisgekrönte Wissenschaftlerin allein per Live-Schalte aus den USA zu Gesicht bekommen. Es schien so als hätten sie den Grund dafür vergessen, warum eine ihrer Spitzenforscherinnen am anderen Ende der Welt saß.

Doch Ilaria Capua hat die Zeit, in der nicht nur ihr Ruf als Virologin, sondern auch ihre persönliche Freiheit auf dem Spiel standen, nicht vergessen. Jene Zeit war einer der Gründe, warum die Expertin vor vier Jahren die Leitung des renommierten „One Health Centers“ der Universität von Florida übernahm und Italien schmerzlich den Rücken kehrte. „Während man mir damals in den USA eine angesehene Stelle anbot, stand ich zu Hause mit einem Bein im Gefängnis. Das muss man sich einmal vorstellen!“ Und in der Tat – die Geschichte Ilaria Capuas liest sich wie ein Kriminalroman.

Aus Leidenschaft zum Virus

Um der Bevormundung ihres Vaters zu entgehen, entscheidet sich die junge Capua, Veterinärmedizin in Perugia zu studieren – eines der wenigen Fächer, das in ihrer Geburtsstadt Rom nicht angeboten wird. Tiere mag sie zwar, aber ein Leben lang Thermometer in Hunde oder Katzen zu stecken will sie sich nicht vorstellen. Stattdessen beginnt die junge Akademikerin sich für Viren zu interessieren. Insbesondere für solche, die den meisten Menschen in der Regel Angst machen: Viren, die aus dem Reich der Tiere auf den Menschen übertragen werden.

Den Doktortitel in der Tasche übernimmt Capua mit nur Anfang 30 die Leitung der Abteilung für Biomedizin am Institut für Tierseuchenbekämpfung in Padua. Gerade einmal vier Mitarbeiter*innen zählt das kleine Labor, als sie ihren Job anfängt. Am Ende ihrer Dienstzeit arbeiten mehr als 50 Angestellte in der Forschungsanstalt, die dank der unablässigen Zielstrebigkeit Capuas zu einer der Referenzstellen der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen und der Weltorganisation für Tiergesundheit in Italien heranwächst.

Kurz nachdem die Virologin die Leitung des Labors übernimmt, steht dieses vor einer Herausforderung: 1999 kämpfen norditalienische Geflügelzüchter*innen gegen den Ausbruch der Vogelgrippe – eine der aggressivsten Seuchen der Tierwelt, mit einer Sterblichkeitsrate von 50 Prozent. Ein enormer wirtschaftlicher Schaden für die Region. Doch Capuas Team knackt den genetischen Code des H5N1-Virus und entwickelt eine bis dahin revolutionäre Impfstrategie, die den Weiterverkauf geimpfter Tiere ermöglicht. Ein Erfolg in letzter Minute, denn das tödliche Virus begann bereits auf den Menschen überzugreifen.

Was dann folgte, beweist nicht nur die Willensstärke, sondern auch den Innovationsgeist der Wissenschaftlerin. 2006 fordert die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Italienerin auf, ihre Forschungsergebnisse in einer internen Datenbank zu hinterlassen, zu der das Labor von Capua mit nur 20 anderen einen exklusiven Zugang haben sollte. Trotz harscher Kritik widersetzt sich Capua dem Diktat der WHO und lädt stattdessen erstmalig die genetische Sequenz eines Virus auf eine „Open Access Database“ hoch. Dieser Widerstand im Dienst der kollektiven Freiheit ermöglichte mehr Transparenz und den freien Zugriff auf begehrte Forschungsergebnisse für alle Wissenschaftler*innen weltweit. Dadurch gewinnt man nicht nur Zeit, sondern auch kleinere Labore haben die gleichen Chancen im Wettlauf um einen Corona-Impfstoff.

Auf der Anklagebank für mehr Innovation

Ilaria Capua stellt gern das System in Frage und macht den Weg frei für neue Ideen. Das Wissenschaftsmagazin „Seed“ zeichnete sie 2008 zum „revolutionary mind“ aus, die Organisation „Scientific American“ listet sie unter den 50 besten Wissenschaftler*innen der Welt. Ihr Innovationsgeist wäre Capua jedoch fast zum Verhängnis geworden. Im April 2014 wurde sie vom italienischen Wochenmagazin „Espresso“ des illegalen Handels mit im Labor gezüchteten Viren bezichtigt. Mit 36 weiteren Personen wurde sie verdächtigt, eine kriminelle Vereinigung gebildet und Profit aus ihrem Impfstoff zu geschlagen zu haben.

Eine schwere Anschuldigung, auf die lebenslange Haft drohte. Der Artikel beruhte auf den Ermittlungen eines Staatsanwaltes, die mehr als vier Jahre in einer Schublade ausharrten. Irgendwann sickerten sie zur Presse durch – wie, ist bis heute unklar. Klar dagegen ist, dass die vermeintlichen Beweise haltlos waren. Dennoch überschatteten sie das Leben der Wissenschaftlerin und führten zu einem langwierigen Verfahren, das erst 2016 eingestellt wurde. Capua, deren Ruf geschädigt war, trat von sämtlichen Ämtern zurück und sagte Italien Lebewohl.

Trotz der Altlasten vermisst die Italienerin ihre Heimat und Europa. Gleichzeitig seien Wissenschaftler*innen heutzutage an keinen geografischen Ort mehr gebunden. Ihr Traum ist es, ein interdisziplinäres Kollektiv zu bilden, das im Dienst der Gesundheit seine Kräfte vereint. Vor der Pandemie habe sie am „One Health Center“ täglich an diesem „Tuch gewebt“ und Expert*innen aus unterschiedlichen Bereichen an den Tisch geholt. Dabei stand die Integration von Big Data – also große Mengen an Daten – im Fokus. Mühsam versuchte sie, Puzzleteil um Puzzleteil zusammenzusetzen. Seit dem Ausbruch von Covid-19 habe es jedoch plötzlich „Klick“ gemacht. Vorbei die minutiöse Kleinarbeit. Die Pandemie wirke wie ein „Beschleuniger“, so Capua.

Zusammen mit Fabiola Gianotti, der Generaldirektorin des CERN Instituts in Genf, sowie anderen Kollaborateur*innen gründete sie ein neues Komitee namens „Yellow Submarine“. Bereits im Namen steckt Ironie. Während des Lockdowns seien sie auf Zoom wie in einem virtuellen U-Boot zusammengerückt und abgetaucht um Lösungen im Umgang mit dem Virus zu finden. Ihr Ziel sei es weltweit generierte Daten aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten und daraus neue Standards zu entwickeln.

Auf der vom CERN zur Verfügung gestellten Plattform „Zenobo“ können künftig medizinische Daten von Krankenhäusern oder Institutionen mit Forschungsergebnissen zum Klima oder der Mobilität in Verbindung gebracht werden. „Auf diese Weise stoßen wir Veränderungen von der Basis aus an, statt auf Anweisungen von oben zu warten“, so die Pionierin.

Gute Wissenschaft braucht gute Kommunikation

Ohne Zweifel ist Ilaria Capua anders – anders als viele ihrer zumeist männlichen Kollegen, die täglich in Italien im Rampenlicht stehen. Das bestätigen nicht nur ihre wissenschaftlichen Errungenschaften, sondern auch ihre positiven Umfragewerte in der Bevölkerung. Laut einer aktuellen Studie des Meinungsforschungsinstituts „Noto Sondaggi“ ist Ilaria Capua die zweitbeliebteste Virologin in Italien, gleich hinter Giuseppe Ippolito, dem Direktor des „Istituto Spallanzano“. Gleichzeitig gehört sie mit Sicherheit zu den ausgeklügelsten Kommunikator*innen ihres Fachs.

Acht Bücher und mehr als 200 Publikationen erschienen unter ihrem Namen. Auch ihre Präsenz in den sozialen Medien ist bestens durchdacht. Sobald die Expertin über Sars-CoV-2 spricht, entsteht fast der Eindruck, sie rede über einen alten Gefährten, dessen Macken und Stärken sie genau kennt. „Nicht das Virus macht die Pandemie, sondern wir. Das Virus wäre auch inmitten der chinesischen Wälder glücklich gewesen. Wir haben es jedoch aus seinem natürlichen Habitat verschleppt und ihm geholfen, sich in kürzester Zeit zu verbreiten“, erklärt sie.

Doch auch vor Provokationen scheut die Virologin nicht zurück: „Die Pandemie war einer der größten Misserfolge unserer Gesellschaft. Es war der Wissenschaft nicht gelungen, politische Entscheider rechtzeitig zu warnen.“ Sowie man Naturkatastrophen voraussehen könne, sei klar gewesen, dass die nächste Pandemie auf uns zurolle. Keiner habe jedoch geglaubt, dass sie so kostspielig werden würde. Dabei hat Capua bereits im Februar – also vor dem massenhaften Ausbruch des Virus in Italien – unter dem Hashtag #pandemiecost vor dessen Folgen gewarnt.

Virologin mit politischem Weitblick

Der politische Weitblick der Forscherin ist kein Zufall. Im Jahr 2013 trat Capua über die Bürgerliste des späteren Ministerpräsidenten Mario Monti ins italienische Parlament ein und war Teil seines Technokraten-Kabinetts. Für sie ein entscheidender Schritt, der ihr Leben und ihre Sichtweise auf die Wissenschaft in vielerlei Hinsicht verändert hat: „Bis heute bin ich über diese Erfahrung glücklich, denn sie hat mich nachdrücklich geprägt. Ich habe nicht nur gelernt, die Wissenschaft, sondern auch die Beweggründe von politischen Entscheidungsträgern zu verstehen.“

Ob ihr Eintreten in die Politik möglicherweise auch zu den damaligen Ermittlungen geführt habe, wird wohl nie ganz geklärt. Capua gleicht jedoch nicht selten einer Boxerin, die den Ring nicht verlässt, auch wenn sie die ein oder andere Faust wegstecken muss. Ihr geht es nicht um Sieg, Niederlage oder Genugtuung. Entscheidend sei für sie die Veränderung.

„Manchmal muss man bereit sein, das alte Leben für etwas Neues hinter sich zu lassen.“ Ein Rat, den Capua gern auch jungen Wissenschaftlerinnen gibt, die in dem noch immer patriarchalisch geprägten Italien oft keine Aufstiegschancen haben. „Es ist wichtig, den Mut zu haben, sich seinen eigenen Raum zu nehmen und das System zu verstehen. Der Weg ist lang, aber unser Wert für die Gesellschaft unmessbar.“

Ein ganzheitliches System anzustreben ist auch der Kern ihrer aktuellen Forschung: „Es kann nicht sein, dass wir auf den Mars wollen, aber immer noch Schmetterlinge und Bienen töten, weil wir parasitäre Insekten bekämpfen“, sagt sie. „Wir schaden dem Gleichgewicht unseres Ökosystems. Das macht künftige Pandemien immer wahrscheinlicher.“ Der Mensch müsse sich stärker um seine Umwelt sorgen mit dem Fokus auf nachhaltiges und integratives Handeln. Ihrer Meinung solle gerade Europa mit gutem Beispiel vorangehen.

 

Diese Recherche wurde mit Mitteln des WPK-Recherchefonds gefördert. Das Porträt ist der dritte Teil einer Serie von sechs internationalen Virolog*innen, die wir in den nächsten Wochen vorstellen werden. Wir möchten damit den Blick weiten und aufzeigen, welche Wissenschaftler*innen in anderen Ländern tonangebend sind und den öffentlichen Diskurs maßgeblich mitbeeinflussen.

 

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Von Helen Hecker, Palermo

Helen Hecker berichtet als freie Redakteurin und Fotografin für Online, Print und TV. Sie ist unsere Community Managerin und kümmert sich darüber hinaus um unseren Instagram-Kanal. Nach ihrem Studium zur Sprach- und Politikwissenschaftlerin in Bamberg zog es sie 2008 nach Sizilien. Dort war sie lange Zeit für die nationale Dokumentarfilm-Akademie tätig und spezialisiert sich in ihrer Auslandkorrespondenz auf Italien. Mehr: www.helenhecker.de.

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