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Strukturelle Ungleichheiten
Diskussion über Feminismus in Zürich

31. August 2022 | Von Pauline Tillmann
Die freie Journalistin Sylke Gruhnwald kennt die Ungerechtigkeiten in Deutschland und der Schweiz. Fotos: Pauline Tillmann

Am 24. Juni haben wir ins Rothaus in Zürich zur Diskussion eingeladen. Es ging darum, zu eruieren, wo wir im Jahr 2022 in puncto Feminismus stehen. Diskutiert haben mit uns die freie Journalistin Sylke Gruhnwald, Professorin Juliane Lischka und Markus Müller-Schinwald, der beim ORF die Radiosendung „Europa-Journal“ leitet.

Der ORF hat sich die BBC (öffentlich-rechtlicher Rundfunk in Großbritannien) zum Vorbild genommen, um das erfolgreiche 50:50 Equality-Projekt durchzuführen. Markus Müller-Schinwald erklärte dazu bei der Diskussion in Zürich:

„Tatsächlich hat sich die Strategie, klein anzufangen, damit sich das dann auch durchsetzt und von immer mehr Redaktionen übernommen wird, um den Frauenanteil zu erhöhen, im Programm durchgesetzt. Sehr klug angelegt. Mein Anteil ist, dass meine Sendungtatsächlich lange Zeit, die mit dem höchsten Frauenanteil war, von, ich glaube, 46 Prozent zuletzt.

Die Sendung, die ich gestalte, ist ein wöchentliches Auslands-Journal und nennt sich Europa-Journal, wo ich über Europa, europa-politische, außenpolitische Themenberichte. Das funktioniert so: Es gibt immer ein Gast, eine Gästin, und drei Beiträge aus verschiedenen Bereichen, insgesamt etwas mehr als eine halbe Stunde, pro Woche. Also für mich war die höhere Präsenz von Frauen im Programm erstens ein gesellschaftliches Anliegen und dann gibt es einfach richtig Geld.

Ich sag’s so: Ich habe zwei Töchter und ich will, dann wenn die prinzipiell größer sind, nicht mehr den gleichen krassen Druck machen müssen wie die Frauen unserer Generation. Ich fürchte, beim Versuch wird’s bleiben, aber man kann es mal versuchen.


 

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Und der zweite Teil ist, dass es schon auch ein Alleinstellungsmerkmal ist. Also, wir haben ja immer wieder die gleichen Gäste, immer wieder die gleichen Experten – nicht gegendert – die bestimmte Dinge erklären. Und das war mir ein bisschen fad. Und um andere Perspektiven auf Außenpolitik, Sicherheitspolitik, Europapolitik zu werfen, braucht man einfach andere Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen. Und ich suche dann sehr intensiv nach anderen Perspektiven, die im deutschsprachigen Raum zum Glück immer mehr von weiblichen Expertinnen kommen.

Also jetzt gerade, wenn man den Ukraine-Krieg sieht, sieht man, dass es da wirklich eine große Anzahl, eine große Menge von sehr gescheiten, sehr qualifizierten Frauen gibt, die man ins Programm einladen kann, die wir im normalen Programm nicht haben oder nicht hatten. Und da hat meine Sendung schon wirklich ein Alleinstellungsmerkmal. Und was man auch sieht, ist der „Schuhlöffel“: Also ich habe eine ganze Reihe von Frauen, die in meiner Sendung erstmals im ORF zu hören waren und auch als Gast oder auch als Autorinnen, wo ich dann eine Woche später die Anfrage von irgendwelchen Redaktionen kriege: Kannst du mir bitte den Kontakt schicken, wir hätten die auch gerne. Also das ist schon eine Schuhlöffel-Funktion. Was ich allerdings auch merke ist, dass diese Suche und auch das Überreden von Expertinnen aufwendiger ist als bei Experten. Also wenn ich bei irgendwelchen Leuten anfrage, melde ich mich als Chefredakteur dieser Sendung und frage, wollen Sie nicht bitte Gast sein, und da habe ich es noch nie erlebt, dass ein Mann absagt.

Bei Expertinnen ist es dann doch schon ein größerer Aufwand. Also, wirklich durch die Bank – ich überlege, ob es eine Ausnahme gibt. Eine vielleicht. Aber es ist wirklich so: Die wollen genau wissen, worum geht es? Was sind die Themen? Bin ich qualifiziert? Wieso fragen Sie mich? Da habe ich beim Radio nicht das Problem, was die Kolleginnen vom Fernsehen erzählen, nämlich dass sie dann sagen: Nein, und passt meine Frisur. Das kann ich sogar nachvollziehen. Bei Männern ist das wurscht. Sie setzen sich einfach in die Sendung. Also es ist schon deutlich mehr Aufwand.

Ö1-Europajournal: Markus Müller-Schinwald im Gespräch mitPolitikwissenschaftlerin Vera Axyonova, Christos Katsioulis und Diplomat Martin Sajdik über Fragen der europäischen Sicherheitspolitik. | Foto: LinkedIn

Ich finde, es zahlt sich aus, weil die Sendung dadurch einfach eine andere Perspektive bietet. Wir merken aber auch, dass dann nicht die Frage ist, wie das Programm ausschaut, sondern eher wie schafft man es überhaupt, Programm zu machen, verbunden mit den ganzen Sparmaßnahmen, die wir beim ORF diskutieren. Also, mein Frauenanteil rasselt nicht runter, weil ich einfach nicht die Kraft, die Energie und die Zeit hätte, um diese „extra Meile“ zu gehen, sondern einfach um überhaupt diese Sendung zustande zu bringen.

Es wurde begonnen als einjähriges Programm im Jahr 2020. Das wurde dann verlängert. Wir sind jetzt am Ende des zweiten Jahres und das machen, glaube ich, inzwischen mehr als 90 Redaktionen mit. Also fast alle. Naja, nicht ganz alle, aber sehr viele sind sehr aktive Redaktionen. Man muss jetzt in gleicher Weise sehen, zum Beispiel die Fernseh-Sportredaktion ist sehr aktiv, die natürlich tatsächlich Mühe geben, mehr Frauen ins Programm zu holen. Wir hatten jetzt vor drei Wochen ungefähr die letzte Besprechung, weil die auch argumentieren, dass es gut ankommt und dass es irgendwie frischer ist.

Es gibt am Ende dieser einjährigen Projekte dann immer eine Publikation, wo auch dargestellt wird, welche die besten Redaktionen sind anhand der Zahlen. Und das sind dann noch ein paar Details, wann und wieso man was tut und welche Hintergedanken man hat.“

In unserem Interview vor zwei Wochen mit Hannah Ajala haben wir darüber gesprochen, dass die BBC inzwischen ein neues Ziel namens „50:20:12“ ausgerufen hat. Das heißt konkret: 50 Prozent Frauen im Programm, 20 Prozent Menschen mit Migrationshintergrund und People of Color und zwölf Prozent Menschen mit Behinderungen.

Darüber gibt es beim ORF ebenfalls Diskussionen, aber bislang keine konkreten Planungen. In Hinblick auf den Frauenanteil gibt es in der Wissenschaft ebenfalls enormen Handlungsbedarf. Juliane Lischka ist Professorin an der Universität Hamburg und hat 2014 in Zürich promoviert. Dort sei man bei gut 20 Prozent, sagt sie. Und weiter:

„Aber es ist natürlich nicht ausgewogen, sondern sozusagen so, dass jede vierte Person auf einer Professur weiblich ist, in Zürich im Schnitt. Und das variiert wiederum aber auch, je nachdem, in welchem Fach du bist. Denn es ist in manchen Fächern durchaus auch ausgewogener. In anderen Fächern ist es noch schwieriger, weiblichen Nachwuchs zu finden. In Bezug auf Hamburg kenne ich die Zahlen nicht im Detail. Und jetzt sage ich mal, in dem Bereich Sozialwissenschaft, in dem ich tätig bin, würde ich eher vielleicht sogar zu einem Drittel neigen. Also sagen, da ist ein Drittel weiblich und der Rest männlich. Und bei uns jetzt direkt in der Abteilung, in der ich arbeite, also Kommunikationswissenschaft und Journalistik, da ist es ausgewogen, da sind wir zwei und zwei, zwei männlich und zwei weiblich.

Ich denke, es ist im Moment noch ein bisschen Ausnahme. Aber ich habe den Eindruck, es wird mehr und mehr zur Regel. Wenn ich auf internationale Konferenzen fahre, sind die Vortragenden in einem Panel ganz selten nur männlich. Das passiert einfach. Selbst wenn man das jetzt gar nicht mehr darauf anlegt, passiert es einfach nicht mehr. Glücklicherweise – zumindest in der Kommunikationswissenschaft.

Ich glaube, dieser Weg, den man sozusagen als Doktorandin oder Postdoc dann beschreitet, ist für alle schwierig. Und man muss sich irgendwie versuchen, auf diese Zielgrößen und auch die Währung in der Wissenschaft einzustellen. Und da bin ich dann an einem Punkt, wo ich sage, das sind Zielgrößen wie in vielen verschiedenen Systemen. Wenn wir die Gesellschaften betrachten, die halt irgendwann mal von Männern initiiert worden sind und die sozusagen vielleicht aus einer feministischen Perspektive nicht gut funktionieren, diese Zielgrößen, also man muss sich irgendwie mit diesen anfreunden und versuchen, dahin zu arbeiten, um sich klarzumachen, okay, wenn ich dieses Berufsziel versuchen will zu schaffen, dann brauchst du halt entsprechenden Output, du brauchst diese Sichtbarkeit. Und das sind alles Sachen, die eigentlich das System mal, als es halt männlicher war, definiert hat und ganz schwer ist, davon wegzukommen.

Und die Diskussionen, die wir jetzt sehen, zeigen zumindest, dass daran gekratzt wird und dass es kritisiert wird. Diese Währungen, die da existieren, aber sie existieren nach wie vor. Und letztendlich glaube ich, du brauchst tatsächlich für dieses System diese Gleichstellungsbeauftragten an den Universitäten. Hätte es das strukturell nicht gegeben, wären wir längst nicht soweit, dass wir uns über 25 Prozent freuen. Und du brauchst es wirklich, in den Berufungsverfahren, dass da einfach wirklich eine Person sitzt, die immer mal wieder daran erinnert, dass man diese Gender-Ausgewogenheit versucht zu realisieren. Und würde es das nicht geben, hätte ich auch starke Zweifel, dass man irgendwie 25 Prozent geschafft hätte.“

Markus Müller-Schinwald meint, die „Ära der narzisstischen Alleinherrscher“ sei vorbei. Er sieht die größte Herausforderung darin, dass der ORF einem rigiden Sparprogramm unterliegt und sich die alten Herren in die Pension verabschieden, ohne ihre Positionen richtig nachzubesetzen. Da rücken junge Frauen und Journalistinnen aus der zweiten Reihe nach, aber sie bekommen weniger Zuzahlungen, müssen die Funktionen übernehmen „und gehen dann alle in Arbeit unter“.

Das sei allerdings nicht nur ein Problem für die Frauen, sondern auch für die Männer, die aufsteigen. „Der Spardruck ist schon seit ein paar Jahren so, und dann kommt man da so langsam an einen Punkt, wo es nicht mehr nur ins Fleisch, sondern auch in die Knochen geht.“ Bei unserer Diskussion ging es auch um gleiche Bezahlung und systematische Benachteiligung. Juliane Lischka meint dazu: 

„Ja, mir geht das nämlich so, dass ich für mich individuell nicht das Gefühl habe, ich werde benachteiligt. Aber dank dieser Studien weiß ich: Ich weiß, ich werde benachteiligt. Ich weiß, ich werde systematisch weniger zitiert. Mit mir werden systematisch weniger Forschungsprojekte angestoßen. Und das kann man eben für verschiedene Felder sehen. Man könnte jetzt auch argumentieren: „Ach, es ist vielleicht nicht so in der Kommunikationswissenschaft“, aber es gibt eine Studie, die für die deutschsprachige Kommunikationswissenschaft genau dieses Gap aufzeigt. Und sonst hätte ich halt auch gesagt, den Eindruck hab ich jetzt gar nicht, mir geht es doch gar nicht so schlecht“. Ich mache doch Forschung, ich publiziere ganz gut so, aber man kann es halt nachweisen.“

Die Grassroots-Initiative #IchBinHanna gibt prekärer Arbeit in der Wissenschaft ein Gesicht.

Gleichzeitig gebe es eine positive Entwicklung, so Lischka: Frauen werden auf Konferenzen in der Kommunikationswissenschaft immer sichtbarer. Reine Männerpanels seien demnach inzwischen undenkbar. Diese Entwicklung habe vor fünf, sechs Jahren eingesetzt. Sie erwähnt die #IchBinHanna-Bewegung, die auf prekäre Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft aufmerksam macht. Diese weist unter anderem darauf hin, dass eine unbefrististete Stelle wie ein Sechser im Lotto sei.

„Mir hat auch mal jemand gesagt, wenn man in der Wissenschaft bleiben will, muss man ein Stück weit – und jetzt benutze ich explizite Sprache – man muss ein Stück weit ein Arschloch sein. Also, man muss wirklich versuchen, irgendwie an sich zu denken und seine Ziele zu verfolgen. Und wenn du dich ablenken lässt und sagst, jetzt mache ich aber irgendwelche Sachen, die nicht in dieses System einzahlen, dann hast du schon verloren. Und da hat man hier keine andere Wahl, sondern muss versuchen, das zielstrebig zu verfolgen und mehr an sich zu denken als an andere. Und das finde ich schon super unangenehm, letztendlich, wenn man sich das überlegt. Dass man schon schauen muss, wie man da durchkommt. Und Frauen wird ja dann auch wieder gesagt, sie sind nicht so wettbewerbsorientiert wie Männer. Also die Systeme sind einfach häufig so angelegt, dass es quasi diese Wettbewerbsorientierung ist, die dich vorwärts bringt. Hab heute erst nochmal Fragen ausgefüllt zu Lebenslauf und Professoren. Da war auch meine alte Batterie zur Wettbewerbsfähigkeit drin. Wie viel Ellenbogen man hat, das habe ich halt auch nicht. So, da kreuze ich so die Mitte an. Das ist eigentlich dem System abträglich.“

Sylke Gruhnwald erzählt, dass sie gleichberechtigt aufgewachsen sei und sich deshalb schon früh als Feministin bezeichnet habe. Sie habe von ihren Eltern mitbekommen, dass sie den gleichen Stellenwert habe wie ein Mann und gleichwertig sei. Im Berufsleben habe sie jedoch erkannt, dass das so nicht stimme und traf auf strukturelle Ungerechtigkeiten. Die Frage sei, so Gruhnwald, welche Maßnahmen könne man ergreifen, damit das im besten Fall sanktioniert werde?

„Und das ist etwas, was mich in der Tat umtreibt, jetzt abgesehen von dem Wunsch nach Quote. Und so weiter. Der Wunsch nach Quote, und der betrifft in der Schweiz auch eine sehr kleine Gruppe an Frauen, wenn man so möchte, die bereits jetzt privilegiert ist. Das, was ich beschreibe, also „Frau erlebt strukturelle Ungerechtigkeit“ und die Frage ist, wie kann sie sich dagegen wehren? Die betrifft uns alle, die betrifft auch die Frauen, die in einer weitaus weniger privilegierten, wenn nicht gar prekären Situation arbeiten.

Und also es ist eigentlich eine in der Tat Gesprächssituation gewesen. Mein Vorgesetzter, ein Mann, und ich, wir haben uns verabredet für ein Gespräch, wir haben das Gespräch zu zweit geführt, hinter verschlossenen Türen, da konnte nicht mal jemand vorbeigehen, was aufschnappen. Und ich hatte mit der Person, mit dem Mann, meinem Vorgesetzten besprochen, dass ich eine Auszeit nehmen möchte, dass ich drei Monate lang frei machen kann, die er hier in dem Gespräch zugesichert hatte. Und da war dann in dem nächsten Gespräch, wo dann die Übergabe stattfinden sollte, weil ich ja dann doch drei Monate weggehen sollte, war davon keine Rede mehr. So, und wer hat jetzt so was noch nie miterlebt wie ich? Wie stehe ich jetzt da, da das geschehen ist, dass ich diese Zusage bekommen habe und er das abwehrt und sagt, das ist nicht geschehen?

Ich kann formulieren, verstehen und mich so ausdrücken. Ich bin auch jetzt, glaube ich, eher doch jemand, der schlagfertig ist. Also auch das ist nicht das Thema. Jetzt gibt es andere Frauen, die marginalisierten Gruppen angehören, die ganz andere Dinge erleben. Wie kann denn das, was uns da geschieht, kontrolliert werden? Wie kann so was sanktioniert werden? Und das ist eigentlich ein großer Unterschied von der Schweiz zu Deutschland, das ist das Arbeitsrecht. Da steht uns das Arbeitsrecht in der Schweiz als Arbeitnehmerin nicht bei, im Zweifel, selbst wenn das dann vor Gericht gehen sollte. Dann ist in der Schweiz die Ausrichtung in der Tat eher niedrig, und orientiert sich eher an den Bedürfnissen eines Arbeitgebers und nicht an der Arbeitnehmerin.

Richard Höchner (l.) leitet beim digitalen Schweizer Magazin REPUBLIK den Bereich Community – hier beim Selfie mit Chefredakteurin Pauline Tillmann. 

Wir haben keine starken Gewerkschaften, wir kennen das Konzept eines Betriebsrates nicht. Es gibt ein ähnliches, so etwas Ähnliches wie eine Personalkommission. Das ist aber kaum vergleichbar und schon gar nicht mit Rechten und Pflichten verbunden, wie wir das kennen in Deutschland, im Betriebsrat. Das sind so Themen, die mich umtreiben. Einerseits, weil ich es selbst erlebt habe, andererseits, weil ich auch eine Chefin war und den Laden nicht geleitet habe, weil ich davor auch Teams geführt habe und gemerkt habe, wie wichtig es ist, dass für viele die Zusammenarbeit auch gesetzlich geregelt wird.

Na ja, so lange sich Politiker, die ein öffentliches Amt begleiten, für das sie gewählt werden, für das sie bezahlt werden, sich äußern dürfen, ohne jegliche Konsequenz fürchten zu müssen, solange meine ich, sind wir da nicht sehr weit gekommen. Und das ist sicherlich traurig, sehr traurig, weil insbesondere für das, was dann unsere Mütter, unsere Großmütter schon alles geleistet haben, was die alles gerissen haben. Und ich glaube schon, dass – hier in einem Satz – im Nationalsozialismus, gerade nach dem Zweiten Weltkrieg und in den 50er, 60er, 70er Jahre, da wurde viel ausgefochten, unter anderem das Urteil Roe vs. Wade 1973, und das wird jetzt umgekehrt, und das liegt mir in der Tat sehr, sehr, sehr schwer im Magen.

Das wird eine Rechtsprechung geändert, die 50 Jahre gehalten hat, mit Ankündigung – ich hatte ja durchaus eine dunkle Vorahnung, weil die erste Fassung publiziert wurde. Da müssen wir ja auch nicht meinen, dass das etwas ist, was jetzt erst mal die US-Amerikanerinnen angeht. Das sendet Signale, die wir ähnlich auch schon kennen aus Malta, dann aus Polen. Dann sehe ich eben den konservativen Backlash – das passiert eben auch in Ungarn. Da müssen wir hinsehen, da müssen wir nicht mit dem Finger auf die USA zeigen. Wir haben das in Europa auch und in anderen Weltregionen ebenso. Wir müssen in der Tat Sorge haben, dass wir das politische Erbe unserer Mütter und Großmütter, unterstützt von den Vätern und Großvätern in Teilen, sicherlich auch, dass wir das verspielen.“

Neben großen globalen Umwälzungen sei die Frage im näheren Umfeld: Wie kann mehr Vielfalt gelingen? Mit Quoten? Mit Sanktionen? Gruhnwald erklärt mit Freiwilligkeit bringe man nicht mehr Frauen in den Aufsichtsrat, in die Aufsichtsräte, in Verwaltungsräte, in die Konzernspitze. Und weiter:

„Mit Freiwilligkeit bekommen nicht mehr Frauen die Chance, Startups zu gründen. Das ist jetzt die Seite derer, die finanziell, per Stand, per Herkunft vielleicht dann doch in so eine privilegiertere Gruppe gehören. Aber gleiches gilt auch für Personen, Frauen, da geht es aber auch um Transmänner, zum non-binäre Personen, die eher zu marginalisierten Gruppen gehören. Die brauchen noch viel mehr Schutz, Unterstützung und eine Regelung, wie sie Gleichstellung, Gerechtigkeit, soziale Gerechtigkeit erfahren können. In der Gesellschaft.“

Aktuell arbeitet Sylke Gruhnwald in einem Theater, in dem es um die digitalen Fronten geht, Russland gegen die Ukraine, bei der sie den Podcast beisteuert. Juliane Lischka hat kürzlich in einem „White Paper Report“ Stellenanzeigen in drei Ländern analysiert sowie die strategische Kommunikation unter die Lupe genommen. Wie oft werden Frauen oder auch Personen mit anderen Hintergründen oder andere Minderheiten angesprochen, sich zu bewerben? Wie oft werden Gehaltsgruppen genannt?

Für weniger privilegierte Menschen sei das ein wichtiges Kriterium, so Lischka. Daran arbeite sie nun mit ihrem Team weiter, weil es nicht zuletzt darum geht, in Zukunft auch Redaktionen in Deutschland diverser zu besetzen, um die Wirklichkeit angemessen widerzuspiegeln.

 

Am 5. September findet die zweite Diskussion zu Feminismus 2022 in Berlin statt. Aktuell machen wir dazu auch auf unseren sozialen Kanälen – auf Instagram, Twitter und Facebook – aufmerksam. Wer neben Ulla Heinrich vom Missy Magazine Platz nehmen möchte, kann gerne (bis zum 1. September 12 Uhr) eine Email schreiben an triff.deinekorrespondentin@gmail.com und kurz ausführen, was er oder sie zum Thema zu sagen hätte. Wir haben noch zwei Plätze auf der Bühne frei und freuen uns auf eine spannende Diskussion.

 

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Von Pauline Tillmann, Konstanz

Pauline Tillmann ist Gründerin und Chefredakteurin von DEINE KORRESPONDENTIN. 2011 bis 2015 war sie freie Auslandskorrespondentin in St. Petersburg und hat für den ARD Hörfunk über Russland / Ukraine berichtet. Zuvor hat sie beim Bayerischen Rundfunk volontiert. Pauline ist regelmäßig als Coachin, Beraterin und Speakerin im Einsatz. 2022 erschien ihr Buch „Lust auf Lokal – das Handbuch für Community-Journalismus“, außerdem hat sie das Buch „Frauen, die die Welt verändern“ herausgegeben. Mehr unter: http://www.pauline-tillmann.de.

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