Es gibt kein Klischee der irischen obdachlosen Frau – sie ist jung oder älter, gebildet oder ohne Schulabschluss, gesund oder krank. Die Lebensläufe der auf den Dubliner Straßen Lebenden sind ganz individuell. Aber deutlich häufiger als im Rest von Europa sind sie weiblich. 41 Prozent der Obdachlosen in Irland sind Frauen.
Von Mareike Graepel, Dublin
Die irische obdachlose Frau kann um die 20 sein, betrunken, und mit Resten von Erbrochenem im Gesicht lallend nach einem Schlafsack fragen. Sie kann aber auch eine teure Outdoor-Jacke als eins der wenigen Dinge, die sie noch hat, tragen, und um ein Stück Pizza bei der Suppenküche bitten. Sie steht zwischen Männern in der Schlange und hält sich aus den Gesprächen raus, spricht mit niemandem. Ob aus Scham oder Schüchternheit, das ist nicht zu erkennen. Vorsichtig sind alle hier, Frauen wie Männer.
„Gut, dass wir mit unserem ‚Service’ immer an einem Dienstag hier sind und nicht an einem Wochenendabend, da kommt es vor, dass Leute aus den Pubs strömen und aggressiv auftreten“, erklärt Denise Carroll von „The Homeless Street Café“, bei dem sie mit anderen Ehrenamtlichen bis zu 300 Menschen mit warmen Speisen, Kleidung, Binden, Tampons, Shampoo, Zuspruch und Haarschnitten versorgt. Wie die 41-jährige Antonia Edgeworth, die sich die Haare von Friseurin Geraldine Collins machen lässt. Sie sitzt auf einem Klappstuhl und sagt: „Bitte, Geraldine, sei vorsichtig hier oben, da habe ich eine kahle Stelle, von dem Vorfall letztens.“
„Nie ist Obdachlosigkeit selbstgewählt“
Denn „die irische obdachlose Frau“ kann auch – wie Antonia Edgeworth – mit Raucherstimme beschreiben, warum ihr Haare auf dem Kopf fehlen: Weil Passant*innen sie brutal zusammengetreten haben. „Meistens verkleide ich mich wie ein Typ, drehe die Haare hoch unter einer Kappe. Erkennbar als obdachlose Frau bin ich noch häufiger Zielscheibe der Wut der Leute. Dann bin ich ein Symbol für etwas, was sie nicht ertragen können: Eine erkrankte Gesellschaft.“ Sie schläft lieber draußen, lieber ‚rough‘, als in einer Notunterkunft – so kann sie sich aussuchen, mit wem sie sich zusammentut.
Heute ist es ihr Kumpel Dominic, kurz „Domo“ genannt. Viele der ‚rough sleepers’ sind untereinander vernetzt, geben sich Tipps für ruhige Ecken und sichere Schlafplätze. Und gehen so auch den Problemen aus dem Weg, die in Obdachlosenunterkünften die Organisationen ebenso wie die Hilfesuchenden beschäftigen: Drogen und Alkohol sind nicht erlaubt, aber schwer zu kontrollieren. Antonia Edgeworth hat eine 13-jährige Tochter, mit der sie zwar Kontakt hat, die aber bei einer Pflegefamilie lebt. Da gehe es ihr besser, meint sie.
Viel häufiger als diese, in der Öffentlichkeit sichtbaren und daher als Stereotypen empfundenen Beispiele gibt es die irische, obdachlose Frau, die ihre Kinder nicht abgeben will, mit ihnen in einem leerstehenden Hotel oder einem Auto am Straßenrand lebt. Oder die im strömenden Regen stundenlang an einer Bushaltestelle wartet, bis ihre Tochter aus der Schule kommt, weil sie sich das Hin- und Herfahren nicht leisten kann.
Im April 2020 waren knapp 9.000 Menschen in Irland offiziell obdachlos, 41 Prozent davon Frauen. Je nach Land sind das acht bis elf Prozent mehr als im Rest von Europa – zum Vergleich, in Deutschland sind es etwa 30 Prozent. „Das sind aber ‚nur’ die offiziellen Zahlen“, erklärt Dr. Paula Mayock, Assistenz-Professorin am Trinity College und Co-Autorin von „Women’s Homelessness in Europe“. „Nicht mit eingerechnet sind die Frauen, die durchs statistische Raster fallen, sich nicht melden und verheimlichen, dass sie obdachlos sind.“ Viele ziehen – auch mit Kindern – von einer Freundin zur nächsten, so lange es geht, oder leben eben im Auto.
„Frauen fürchten sich mehr als Männer vor dem Stigma, vor den unbekannten Umständen in den Notunterkünften, sind dort oft verwundbar und wollen sich und ihren Nachwuchs nicht in Gefahr bringen.“ Hinzu kommt, dass Frauen, die es vermeintlich selbstverschuldet nicht schaffen, in einer Wohnung oder einem Haus wohnen bleiben zu können, dem traditionellen Bild der „guten irischen Hausfrau“ nicht mehr entsprechen. „Wir haben für unsere Studien mit Hunderten von Frauen und Jugendlichen ohne feste Bleibe gesprochen und wissen: Nie ist Obdachlosigkeit selbstgewählt.“ Derzeit sind auf der Grünen Insel mehr als 1.200 Familien mit mehr als doppelt so vielen Kindern obdachlos. Seit 2015 sind diese Zahlen um 166 Prozent gestiegen.
Horrende Mieten, hohe Lebenshaltungskosten
Die Gründe für die hohen Prozentzahlen? Komplex. Strukturelle Faktoren wie Mangel an bezahlbarem Wohnraum, Arbeitslosigkeit, Armut, unzureichende mentale Gesundheitsversorgung oder persönliche Faktoren wie Sucht, psychische Probleme, Zusammenbruch der Familie spielen jeweils eine Rolle. Der derzeitige Anstieg der familiären Obdachlosigkeit wird in erster Linie durch wirtschaftliche Faktoren verursacht. Laut „Focus Ireland“, einer Organisation, die sich speziell um Frauen und Familien ohne feste Bleibe kümmert, hatte die überwältigende Zahl der obdachlos gewordenen Familien ihr letztes stabiles Zuhause im privaten Mietsektor.
Dort sorgt aber die Wirtschaftssituation in Irland – nach der Wirtschaftskrise 2008 hat sich auf dem Wohnungsmarkt keine langfristige grundlegende Besserung eingestellt – dafür, dass viele Vermieter*innen verkaufen oder die Immobilien an die Banken überschreiben müssen, und verursacht einen Mangel an zu vermietenden Immobilien. Ingesamt akzeptieren zu wenige Vermieter*innen die staatlichen Mietzuschläge oder Wohnungsgeld, und verlangen besonders in den großen Städten horrende Summen.
Eine Wohnung mit einem Schlafzimmer in Dublins Stadtmitte kostet um die 1.700 Euro Miete. Zum Vergleich: In Köln kostet eine Wohnung mit 60 Quadratmetern um die 1.000 Euro weniger. AirBnB-Vermietungen bringen Immobilienbesitzer*innen noch viel mehr ein und sorgen so zusätzlich dafür, dass bezahlbarer Wohnraum knapp ist.
In Irland gilt wie in vielen Ländern: Ohne Adresse kein Job und ohne Job keine Adresse. Scheidungen, Trennungen und häusliche Gewalt spielen in der Vorgeschichte oft mit in die Situation hinein. „Es sind hier fast immer die Frauen, die nach einer Trennung vom Partner als alleinerziehende Berufstätige alles stemmen müssen und oft nicht in der Lage sind, Kinderbetreuung und Miete zu stemmen“, so die Sprecherin der „Dublin Simon Community“, einer der großen Organisationen in Irland, die Notunterkünfte und medizinische Versorgung für Menschen ohne Bleibe bereitstellen.
„Bei den irischen Lebenshaltungskosten ist das Einkommen einer Alleinverdienerin nie ausreichend.“ Im Schnitt benötigt eine alleinstehende Person in Irland mehr als 890 Euro zum Leben – ohne Miete. In Deutschland sind das durchschnittlich 850 Eur, inklusive Miete. Die meisten Expert*innen sind sich einig: Es müsste sich viel ändern, und das am besten schnell. Aber damit ist im Moment eher nicht zu rechnen.
Denn die Situation wird bislang konsequent vonseiten der Politik ignoriert – zum Vorteil von Sinn Féin, der lange durch die Verbindung zur IRA kontrovers gesehenen irisch-republikanischen Partei: Sie gewann die Volksabstimmung mit 24,5 Prozent der Erststimmen. Der Grund: Wähler*innen gefiel es, dass sie sich Themen wie Wohnungsnot, Obdachlosigkeit und Gesundheitsfürsorge annahm. Ob sie eine Regierung bilden kann, ist aber fraglich. Zwar wäre eine Koalition denkbar, aber dafür gibt es mit den anderen Parteien zu wenig politische Überschneidungen und viel Feindseligkeit.
Hintergrund:
Die Recherche für diese Geschichte fand vor Beginn der COVID-19-Lockdown-Maßnahmen in Dublin statt. In der Zwischenzeit gab es neue – für die Zeit der Pandemie geltende, aber nur temporäre – Regelungen, die zum einen dafür sorgen, dass Einzelpersonen tagsüber die Notunterkünfte nicht verlassen müssen und dass Familien das Mietverhältnis, auch wenn sie mit Zahlungen im Verzug sind, nicht gekündigt werden darf. Hotels und Jugendherbergen können zudem wegen fehlender Tourist*innen außerdem für die Unterbringung der Obdachlosen genutzt werden.