Lerne inspirierende Frauen aus der ganzen Welt kennen.

Ukraine – eine Innensicht
Von der Künstlerin Yevgenia Belorusets

12. Oktober 2016 | Von Pauline Tillmann
„Frauen haben in der Ukraine weniger Rechte als Männer. Sie sind unterprivilegiert", sagt Belorusets. Fotos: Pauline Tillmann

Bis vor wenigen Jahren wussten wohl die meisten nicht einmal, wo die Ukraine genau liegt. Doch spätestens seit der Krim-Annexion und dem Krieg in der Ostukraine ist das Land in aller Munde. Die 36-jährige Künstlerin Yevgenia Belorusets gibt uns exklusiven Einblick in ihre ganz privaten Gedanken und Gefühle.

Ich lebe in Berlin und Kiew. Mein Deutschlandbezug kommt von meinem Vater. Er ist literarischer Übersetzer. Als Kind hat er mir Gedichte auf Deutsch vorgelesen. Später habe ich Germanistik studiert und an der Akademie der Künste in Berlin geforscht. Das war inspirierend, denn ich habe gemerkt, dass ich dadurch einen anderen Blick auf die Ukraine bekomme. Der Abstand tut mir gut, denn ich bin nirgendwo wirklich Zuhause. Überall fühle ich mich als Ausländerin, als Fremde. Das mag überraschen, aber dieses Gefühl gefällt mir sehr. Ganz nach Deutschland zu gehen kam für mich nie in Frage. Denn dann würde ich die Vorteile der Fremdheit, der Nichtdazugehörigkeit, verlieren.

Ich bin Künstlerin, Autorin und gesellschaftliche Aktivistin. Leider gibt es in der Ukraine wenige Kunstzentren. Die Menschen kommen nur selten mit Kunst in Berührung. Letztes Jahr durfte ich im Pinchuk Art Centre in Kiew ausstellen. Das ist ein Museum für moderne Kunst, gegründet vom Oligarchen Viktor Pinchuk. Der kostenlose Eintritt verschafft den Ukrainern Zugang zu Kunst, die sie sonst vermutlich nie gesehen hätten. Am Wochenende strömen täglich mehr als 2.000 Menschen dorthin. Der Staat unterstützt keine zeitgenössische Kunst. Deshalb ist das die einzige Möglichkeit, mit den Menschen in Kontakt zu treten.

Meine Ausstellung im Herbst 2015 handelte von der Entkommunisierung. Das ukrainische Parlament hat Gesetze verabschiedet, wonach sowjetische Straßen- und Städtenamen umbenannt und Denkmäler entfernt werden sollen. Die Regierung glaubt, dass man einfach alle Lenin-Statuen abbauen kann und sich damit vom Kommunismus lossagen kann. In Wirklichkeit lebt der aber in den Menschen, die damit aufgewachsen sind, weiter. Das heißt, man sollte eigentlich eher Geschichte aufarbeiten als oberflächlich sowjetische Symbole vernichten.

Ein zweiter Schwerpunkt meiner Ausstellung waren Fotografien, die ich in der Ostukraine gemacht habe. Im Mittelpunkt stehen Menschen, die im Bergbau arbeiten. Eine untergehende Industrie, ein Überbleibsel der Sowjetzeit, körperlich extrem anstrengend, aber beeindruckend zu beobachten. In Kiew kennt man so eine Arbeiterkultur nicht. Für mich war das eine Riesenentdeckung. Bekanntermaßen gehören die ukrainischen Schächte zu den gefährlichsten der Welt. Doch die Menschen haben sich an die ständige Gefahr angepasst. Sie ist Teil ihres Lebens.

Wenn wir drei Jahre zurückdenken, an die Revolution auf dem Maidan, dann muss ich sagen: Das war wichtig für die Ukraine. Denn in diesem Land wird ein System nicht durch Wahlen verändert. Nur Massenproteste können eine wirkliche Kehrtwende bewirken. So war das bei den Bergwerkprotesten 1994, bei der Orangenen Revolution 2004 und eben auch jetzt. Der Maidan hat die Ukraine sehr verändert. Es entstand so etwas wie eine Zivilgesellschaft. Gleichzeitig sind viele Menschen spürbar enttäuscht. Der Reformprozess kommt nicht richtig voran, weil das Land durch den Krieg in der Ostukraine in Schockstarre versetzt worden ist.

Das größte Problem sind jedoch nach wie vor die Oligarchen. Viele Regionen werden von Oligarchen kontrolliert – ihr Einfluss ist immens. Trotz Europakurs sind unsere demokratischen Institutionen unglaublich schwach, alte Seilschaften hingegen extrem stark. Es gibt in der Ukraine mehrere Realitäten, die sowjetische und zunehmend auch die europäische. Ich glaube, genau deshalb ist die jetzige Zeit so wahnsinnig spannend.

Protokoll: Pauline Tillmann

 

Yevgenia Belorusets spricht über den Krieg in der Ostukraine und warum er kennzeichnend ist für unsere Realität.

 

Über die Ausstellung von Yevgenia Belorusets im Pinchuk Art Centre, Kiew

 

 

 

 

image/svg+xml

Von Pauline Tillmann, Konstanz

Pauline Tillmann ist Gründerin und Chefredakteurin von „Deine Korrespondentin“. 2011 bis 2015 war sie freie Auslandskorrespondentin in St. Petersburg und hat für den ARD Hörfunk über Russland / Ukraine berichtet. Zuvor hat sie beim Bayerischen Rundfunk volontiert. 2013 hat sie das iPad-Buch „Frei arbeiten im Ausland“ geschrieben, 2015 das eBook „10 Trends für Journalisten von heute“ und 2020 am Handbuch für digitale Medien-Entrepreneure (DW Akademie) mitgewirkt. Mehr unter: http://www.pauline-tillmann.de.

Alle Artikel von Pauline Tillmann anzeigen

image/svg+xml
Sarah TekathAmsterdam
Während der Corona-Lockdowns fanden sich Menschen plötzlich allein in ihren Wohnungen wieder und wurden vielleicht zum ersten Mal mit dem Gefühl von Einsamkeit konfrontiert. Aber viele kennen das nicht erst seit der Pandemie – vor allem Ältere sind betroffen. Darum gibt es in Amsterdam die Organisation „Resto van Harte“, die über das Abendessen Menschen zusammenführen will.
Katja FischbornKöln
Werke von Schwarzen Autor*innen und auch sie selbst werden in Deutschland zunehmend sichtbarer, öffentlicher. Die Autorin Sharon Dodua Otoo war Teil einer Delegation, die Bundeskanzler Scholz bei einer Auslandsreise begleitete. Bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen organisierte sie ein Schwarzes Literaturfestival. Und in Köln eröffnete 2022 NRWs erste Schwarze Bibliothek.
Pauline TillmannKonstanz
Am 24. Juni haben wir ins Rothaus in Zürich zur Diskussion eingeladen. Es ging darum, zu eruieren, wo wir im Jahr 2022 in puncto Feminismus stehen. Diskutiert haben mit uns die freie Journalistin Sylke Gruhnwald, Professorin Juliane Lischka und Markus Müller-Schinwald, der beim ORF die Radiosendung „Europa-Journal“ leitet.
Helen HeckerPalermo
Naomi Ryland ist Mitherausgeberin des Buches „Unlearn Patriarchy“ – ein Bestseller, in dem 15 Autor*innen und Feminist*innen die von Männern dominierten Strukturen in unserem Alltag aufdecken. Im Interview mit Helen Hecker erklärt Ryland, warum es sich lohnt, die eigenen toxischen Verhaltensmuster zu hinterfragen und Macht neu zu denken.
Mareike GraepelHaltern
„Trailblazers“ ist das englische Wort für Menschen, die einen Pfad für andere hell erleuchten und mutig vorangehen. Menschen wie Mary Robinson – die erste Präsidentin der Republik Irland. Wenn sich Frauen in Irland heute scheiden lassen können oder legal eine Abtreibung vornehmen dürfen, haben sie das vor allem ihr zu verdanken. Mareike Graepel stellt die Menschenrechtlerin in einem Porträt vor.

Newsletter Anmeldung

Trage dich jetzt für unseren kostenfreien Newsletter ein, der dich jede Woche mit aktuellen Infos zu neuen Artikel und mit Neuigkeiten rund um DEINE KORRESPONDENTIN versorgt!

Abonniere unseren kostenfreien Newsletter