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Hoch die Mittelfinger!
Eine Fat Femme über die Rückeroberung des eigenen Körpers

20. Juli 2016 | Von Veronika Eschbacher
Jessamyn Stanley bricht alle gängigen Stereotype. Foto: Paul Sunday Photography

Die amerikanische Yoga-Szene wird von weißen, athletischen Frauen dominiert. Die afroamerikanische Yoga-Lehrerin Jessamyn Stanley, die sich selbst als „Fat Femme“ beschreibt, bricht alle Stereotype. Der Instagram-Star ist Teil der „Body-Positivity-Bewegung“, die die USA erfasst hat.

Von Veronika Eschbacher, Los Angeles

Es ist ein angenehmer Sommertag im kalifornischen Santa Monica. Während am Pier die zahlreichen Touristen kreischend auf der Achterbahn Runden drehen und sich mit Karamell-Popcorn die Bäuche vollschlagen, rollen ein paar Straßen weiter in einem ruhigen, mit dem Duft von Räucherstäbchen durchzogenem Yoga-Studio Menschen in bunten Leggins und bauchfreien Tops ihre Matten zusammen. Ihnen ist gemein, dass sie wie ein Abbild ihrer Yoga-Lehrerin sind: Sie alle sind junge, weiße, langhaarige, athletische Frauen.

Für die nächsten zwei Stunden aber soll alles anders sein. Das Studio hat Jessamyn Stanley einfliegen lassen, eine afro-amerikanische Yoga-Lehrerin aus North Carolina, die alle gängigen Yoga-Stereotype bricht. Mit ihr zieht ein völlig anderes Publikum in den lichtdurchfluteten, hohen Raum ein, darunter vier junge, schwarze, stark beleibte Frauen, ein junger Mann mit pinken Haaren in Frauenkleidung, zwei weiße und eine asiatische, füllige Frau über fünfzig und ein weißer Mann mit Bierbauch.

Die 29-jährige Stanley hat selbst nur allzu gut in Erinnerung, wie es ist, die einzige dicke Person in einer Yoga-Stunde zu sein. Vor gut fünf Jahren war sie an einem Punkt in ihrem Leben angelangt, an dem sie alles infrage stellte. Sie schmiss ihr Kunststudium und arbeitete in einer Taco-Bar, litt an Depressionen. Bis eine Freundin sie eines Tages dazu überredete, in eine Yoga-Stunde mitzukommen. Stanley sagt heute, ihr habe eine Herausforderung im Leben gefehlt. Dicken Menschen werde immer gesagt, dass es nur bestimmte Arten von physischen Aktivitäten gebe, die sie machen können; gleichzeitig war jeder Sport bei ihr auch immer verbunden mit dem Thema Gewichtsverlust, sie hatte unzählige Diäten hinter sich. „Bei Yoga aber war das alles anders. Es hat mich verändert, meine Lebenseinstellung, wie ich das Universum wahrnehme“, sagt sie. „Yoga hat mich auf meinen Weg geführt.“

Ihr Yoga-Anfänge hielt sie fotografisch fest, um ihre Fortschritte verfolgen zu können. Später teilte sie die Bilder in sozialen Medien und bloggte darüber. Mittlerweile folgen ihr 200.000 Menschen alleine auf Instagram. In ihren Posts propagiert Stanley Selbstliebe und dass dicke Menschen keine ihnen von der Gesellschaft erklärten Grenzen akzeptieren sollen. „Die Mittelfinger hoch, den fetten Körper raus und stolz sein – so lebe ich mein Leben“, schreibt sie. Auf ihrer Facebook-Seite sind praktisch keine Hass-Kommentare zu finden, nur Dank und Bewunderung.

Stanley fliegt mittlerweile quer durch die USA, um Yoga-Stunden zu halten – die mitunter härtesten auf dem Markt; Produzenten von Yoga-Kleidung und Equipment rennen ihr die Türe ein. Seit kurzem hat sie einen Buchvertrag in der Tasche. „Deine Korrespondentin“ traf sie zum Gespräch über Körperbewusstsein, Nacktbilder und Fat-Shaming, also Mobbing von Dicken.

 

Welche Erfahrungen haben Sie mit Ihrem Körper gemacht?

Jessamyn Stanley: Ich komme aus North Carolina und bin in einer sehr traditionellen, afrikanisch-amerikanischen, ehemaligen Sklavenfamilie aufgewachsen. In den Vorstädten von North Carolina sind Dinge wie Segregation nach wie vor sehr real. Ich bin also in einer Gemeinschaft groß geworden, in der ich hauptsächlich von ebenfalls Afro-Amerikanern umgeben war, und da war es nicht unüblich, larger body zu sein (beleibter, Anm.). Für mich wurde meine Dickleibigkeit erst zu einem Thema, als ich in die High School kam. Meine Mutter gab mir das Gefühl, dass mein Körper grundsätzlich in Ordnung ist, bestimmte Dinge aber nicht wirklich ok sind. Ich sollte also immer etwas anziehen, in dem ich besser aussehe, das etwa meinen Bauch kaschiert. Ich glaube, das ist mit dem Patriarchat verbunden – es wird erwartet, dass Frauen anziehend für Männer sind. Letztendlich hat meine Mutter nur versucht, mir dabei zu helfen, attraktiv zu sein in einer Art und Weise, wie es die Gesellschaft von mir erwartet. Auch natürlich, um jemanden zu finden, der mich heiratet.

 

Welche Beziehung haben die Amerikaner zu ihrem Körper?

Die Amerikaner haben praktisch das Eigentum an ihrem eigenen Körper verloren. Uns allen wird beigebracht, dass ihre Körper den Menschen rund um sie gehören und dass sie ihre Körper für diese anderen Menschen anziehend machen müssen. Es ist sehr wichtig, dass man sozial akzeptabel aussieht – das heißt die Menschen richten sich danach, was in Magazinen oder im Fernsehen als gesellschaftlich akzeptiert definiert wird. Jetzt gerade wollen alle jungen Frauen aussehen wie die Kardashians, davor war Paris Hilton das Vorbild. Es gibt auch spezifische Gruppen, alle schwarzen Frauen wollen aussehen wie Beyoncé.

 

Welche Vorurteile bestehen gegen dicke Menschen?

Viele. Fett wird mit dumm, langsam und unnötig gleichgesetzt, und auch deswegen gibt es heute so eine Scheu davor, das Wort „fett“ zu verwenden. Der ganze Gesundheitsstandard in den USA basiert auf der Annahme, dass fette Menschen an den Folgen ihrer Fettleibigkeit sterben. Von Dicken wird angenommen, dass sie ihrem Leben absichtlich ein Ende setzen wollen. Deswegen ist es in Ordnung, wenn man gemein zu dir ist. Sie helfen dir doch, auf den richtigen Weg zu kommen! Fat-Shaming ist etwas völlig Normales in den USA. Praktisch niemand hinterfragt es.

 

Wie sehen sich dicke Menschen selbst?

Fetten Menschen wird einiges vorgeworfen, und viele finden, die richtige Antwort darauf ist, eine Opferhaltung einzunehmen. Meiner Meinung nach ist das die falsche Einstellung. Es wäre richtig, sein Leben im Angesicht der anderen genau so weiterzuleben. Das ist keine Trotzhandlung, es ist einfach nur: Mir ist es egal, was du denkst, ich lebe mein Leben. Die Unfähigkeit, jemand anderen zu akzeptieren, sagt viel mehr über diese Person aus, als mich. Viele Fette aber sagen: „Oh mein Gott, du bist so gemein zu mir! Ich liebe mich selbst wirklich, und wegen dir fühle ich mich jetzt schlecht wegen mir selbst, du solltest Mitleid mit mir haben“. Aber so bringst du die Menschen nicht dazu, dich als gleichwertig zu sehen. So werden sie dich als Opfer wahrnehmen und lästig, als Ärgernis.

 

Sie posten Nacktbilder von sich selbst, erzählen, dass ihre „Titten“ immer wieder beim Yoga aus der Kleidung fallen. Das ist für die USA doch ungewöhnlich, wo Frauen, die stillen, mit Shitstorms bedacht werden.

Letzteres hat damit zu tun, dass wir in einer puritanischen Gesellschaft leben. Meine Nacktbilder sind im Zusammenhang mit der dritten Welle des Feminismus zu sehen. Das ist die Realisierung, dass wir Frauen unseren Körper desexualisieren müssen. Denn das steht der Gleichheit mit Männern noch im Wege. Wie desexualisiert man? Indem man den Körper herzeigt. Am unwohlsten fühlen sich Amerikaner, wenn sie Brüste und Vaginen sehen. Und um Himmels willen, es sollen schon gar keine Brüste oder eine Vagina einer Larger-body- Frau sein. Bei Körpern von schwarzen Frauen kommt noch hinzu, dass diese stark exotisiert sind und von Männern gekidnappt wurden, die über Generationen farbige Frauen vergewaltigt und ihren Leib geschändet haben.

Es ist daher sehr schwierig für uns, das Eigentum über diesen Raum zu haben. Ein Schlüsselaspekt von Eigentum ist, dieses zu zeigen, zu glorifizieren, es als deine Macht einzusetzen. Das ist das, was Nick Minaj tut, was Beyoncé macht. Jeder wird von dem Glitzer um die beiden Sängerinnen herum abgelenkt – aber schlussendlich ist das, was sie tun. Sie holen die Macht über die Körper von farbigen Frauen zurück. Wir wurden sehr demoralisiert und entmutigt über die vergangenen fünf Jahrhunderte. Diese Entwicklung ist eigentlich eine Riesensache in Amerika, die aber sehr unterschätzt wird, da in unseren Medien sehr stark weiße Stimmen und Themen dominieren.

 

Wo ist Linie zwischen „billigen“, sexuellen Posen und einer Zurückgewinnung des eigenen Körpers?

Die gibt es nicht. So eine Linie gibt es maximal bei Menschen, die glauben, man muss eine Linie zwischen anspruchsvoll und niveaulos ziehen. Aber es ist alles dasselbe. Am Ende des Tages finden die Menschen den Gymnastikanzug von Beyoncé gut, weil sie gesellschaftlich akzeptiert wird. Wenn Beyoncé nur auf Black Entertainment Television wäre oder nur von kleinen Gruppen unterstützt würde, würden die Menschen sagen: Das ist trashy. Es gibt ohnehin genug Leute, die Beyoncés Mission nicht verstehen.

 

Bringen nackte Körper nicht noch mehr Sexualisierung?

Das Problem bei der Desexualisierung ist, dass heute nach wie vor alles dermaßen hypersexualisiert ist von Männern. Es gibt diese großen Bemühungen zur Desexualisierung – und die Männer versauen das alles, indem sie sagen: „Oh, ich liebe das, das ist großartig. Du machst genau das, was ich wollte.“ Aber es ist nicht für sie! Es ist nicht für sie, aber sie glauben das. Aber ja, es gibt diesen Haken, dass es auf der einen Seite die Absicht gibt, sein Eigentum zurückzugewinnen, andererseits dies in einer Art klarzumachen, dass das nicht etwas ist, das für jemand anderem zum Verkauf steht. Wir Frauen sollten uns in unseren Bemühungen hier also nicht gegenseitig verurteilen.

 

Wie wichtig sind die Wörter, die wir verwenden? Im Englischen gibt es eine Menge Varianten, um dicke Menschen zu beschreiben. Sie selbst verwenden „fett“, aber es gibt „curvy, body-positive, plus-size, larger body“.

Die Wörter, die wir verwenden, sind extrem wichtig. Alle haben eine andere Bedeutung. Für mich ist das Wort „fett“ das Gegenteil von „dünn“. In unserer Gesellschaft hat „fett“ so viele Zusatzbedeutungen bekommen, eben dumm, faul, usw. Um es wieder seiner ursprünglichen Bedeutung zurückzuführen, können wir es nicht einfach vermeiden. Wir müssen es verwenden und dabei damit aufhören, es als Waffe zu einzusetzen. Bei „Body-Positivity“ geht es nicht um fett sein, das ist vielmehr das weit gefasste Konzept, dass du und dein Körper an jedem Tag perfekt sind. Wenn man all diese Konzepte, auch etwa „Fat-Positivity“, in Bewegung setzt und sie verbreitet, kann das wirklich zu einer Dynamik führen, sodass viele Menschen, die sich in ihrem Körper unwohl und durch die Erwartungen anderer unterdrückt fühlen, sich gleichwertig fühlen. Dann geht das Gefühl verloren, dass es einen Kampf zwischen Fetten und Nicht-Fetten gibt.

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Fotos: Lydia Hudgens Photography
 Weiterführende Links:

Facebook-Profil von Jessamyn Stanley

Instagram-Account: @mynameisjessamyn

Snapchat-Account: mynameisjessamy

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Von Veronika Eschbacher, Wien

Veronika Eschbacher war, bis zum Fall Kabuls 2021, Büroleiterin der Deutschen Presse-Agentur für Afghanistan und Pakistan. Davor war sie freie Korrespondentin für die USA und Afghanistan. Ihre journalistische Laufbahn begann als Redakteurin für Außenpolitik und Außenwirtschaft bei der österreichischen Tageszeitung „Wiener Zeitung“. Sie beschäftigt sich in ihren Reportagen und Analysen vor allem mit politischen und sozialen Themen, aber auch mit Fragen der Sicherheits- und Wirtschaftspolitik.

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