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Englisch für eine bessere Zukunft
Wie Eugenia Assaf ein Armenviertel verändert

24. Januar 2019 | Von Katharina Wojczenko
Eugenia Assaf (links) spricht mit Delanis Guerra Torrez, deren Sohn José Ángel nicht im Englischunterricht war. Fotos: Katharina Wojczenko

In kaum einer Stadt in Kolumbien treffen die sozialen Unterschiede so krass aufeinander wie in Cartagena. Eugenia Assaf und ihr Team wollen die Lebensbedingungen der afrokolumbianischen Bevölkerung verbessern – und ihr Zuhause gegen ein Mammut-Immobilienprojekt verteidigen.

Von Katharina Wojczenko, Cartagena de Indias

Sindy Valiente weint stumm. Sie sitzt in ihrem Lehnstuhl im Wohnzimmer ihrer zusammengezimmerten Holzhütte. Vor ein paar Tagen wurde ihr Mann Daniel ermordet. Ein Mann aus der Nachbarsiedlung erstach ihn am Strand. Daniel Mesa verblutete. Er wurde 31 Jahre alt. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer in Villa Gloria und Marlinda, zwei benachbarten Armensiedlungen zwischen Strand und Mangrovensümpfen im Norden von Cartagena. Und Sindys Kinder fehlten auf einmal im Englischunterricht.

Eugenia Assaf will das Leben der Menschen im Armenviertel von Cartagena verbessern.

Deshalb ist Eugenia Assaf vorbeigekommen. Die Argentinierin versucht seit drei Jahren mit ihrer Stiftung „CoraJeM“ vor allem Kinder und Jugendliche für die Zukunft stark zu machen – hauptsächlich mit Gratis-Englischunterricht, damit sie eines Tages eine bessere Arbeit finden als ihre Eltern. Hier wohnen fast ausschließlich Schwarze. Die meisten von ihnen leben von Gelegenheitsjobs. Sindy Valientes Mann Daniel war als Schreiner eine Ausnahme.

Der Mann, der ihn umgebracht hat, hatte Drogen genommen. Er befindet sich in Untersuchungshaft. Doch Sindy Valiente sitzt in ihrer Holzhütte mit ihren vier Kindern und ihrer Trauer und überlegt, wie es weitergehen soll. „Ich fühle mit dir deinen Schmerz“, sagt Eugenia Assaf. Jetzt sei es wichtig, dass sie als Familie zusammenhielten. Mit den anderen Frauen habe sie überlegt, wie sie ihr helfen könnten. „Deine Kinder sind intelligent. Deshalb ist es wichtig, dass sie mit dem Englisch weitermachen.“

Mit Englisch gibt es bessere Jobs im Tourismus

Zu Sindys ältesten Sohn Jhanfaider, 15 Jahre alt, sagt sie: „Wenn du weiter so gut lernst, kann ich dir eine gute Stelle verschaffen. In den Hotels brauchen sie Leute, die gut Englisch sprechen.“ Assaf weiß, wovon sie redet. Die Wirtschaftsinformatikerin hat vorher als Managerin in einer Tourismusagentur in Cartagena gearbeitet, die Urlaubspakete für betuchte ausländische Gäste schnürt.

Cartagena de Indias ist nach Bogotá seit Jahrzehnten die kolumbianische Tourismus-Hochburg. 1984 adelte die UNESCO die Altstadt wegen ihrer Festungsanlage aus der Kolonialzeit zum ersten Weltkulturerbe Kolumbiens. Das von Stränden umgebene Cartagena war selbst zu Zeiten des bewaffneten Konflikts zwischen Staat, Paramilitärs und FARC-Guerilla für Touristen sicher. Der Flughafen ist nur eine Viertelstunde von der Altstadt entfernt.

US-amerikanische Besucher*innen lieben Cartagena und seine Luxus- und Boutiquehotels. „Aber 90 Prozent unserer Bewerberinnen und Bewerber sprachen nur rudimentär Englisch – und die meisten Tourist*innen sprechen kein Spanisch“, sagt Assaf. „Die Nachfrage nach Personal mit Englischkenntnissen ist riesig.“ Das gilt auch in den beiden anderen wichtigsten Wirtschaftszweigen. Die Petrochemie und die Logistikbranche an Kolumbiens größtem Containerhafen brauchen dringend Arbeitskräfte, die Englisch sprechen, bestätigt Luis Fernando Lopez von der örtlichen Handelskammer: „Englischunterricht sollte in Cartagena Priorität sein. Die Politik sieht das leider anders.“

Die öffentlichen Schulen versagen

Die Stadtregierung wird seit Jahren von Korruptionsskandalen erschüttert. Zehn Bürgermeister in sieben Jahren – und der letzte kam statt ins Rathaus gleich ins Gefängnis. Ähnliche Zustände herrschen im Stadtrat. „In der Bildung sind die Auswirkungen der institutionellen Krise am heftigsten“, sagt María Claudia Peña, Direktorin der Organisation „Cartagena Cómo Vamos“. Das zeigt ihr aktueller Jahresbericht zur Lebensqualität in Cartagena: Die öffentlichen Schulen schneiden bei den landesweiten Lerntests miserabel ab – mit Tendenz nach unten. 2016 ging jedes dritte Kind überhaupt nicht zur Schule. Dass ihr Anteil 2017 gestiegen ist, ist einzig den 2.350 Flüchtlingskindern aus Venezuela zuzuschreiben.

Lediglich teure Privatschulen bilden die Ausnahme. Von denen können Assafs Englischschüler*innen in Marlinda und Villa Gloria allerdings nur träumen. Hier endet die Strand- und Hotelmeile, die hinter dem Flughafen beginnt, und statt Häusern stehen am Strand Hütten. Es gibt keine geteerte Straße, kaum Bäume und Schatten, dafür jede Menge Müll. Die Siedlungen haben Strom und Wasserstellen, aber keine Kanalisation, Gasleitung oder Müllabfuhr.

Viel Müll, wenig Schatten: Strassenszene in Marlinda.

Die meisten Tourist*innen lernen diese ländliche, unglamouröse Seite Cartagenas jenseits von Altstadt, Yachthäfen und Stränden niemals kennen. Eugenia Assaf kam selbst nur per Zufall hierher. 2015 hatte sie in Bogotá ein berufliches Projekt bei einem Telefonkonzern beendet und machte mit ihrer Schwester Urlaub in Cartagena. Dabei besuchte sie nicht nur die schönen Seiten der Stadt, sondern auch die Armenquartiere. Sie war erschüttert als sie die Armut und den Hunger sah.

Zunächst half sie nur einzelnen Bedürftigen, aber als sie keine geeignete Stiftung fand, gründete sie mit Freunden selbst eine. Der Name „CoraJeM“ steht für „Corazón de Jesús y María“, zu Deutsch „Herz Jesu und Mariae“. Dafür gab sie sogar ihr altes Leben in Argentinien auf. Die 34-Jährige ist tiefgläubig. Das verbindet sie mit vielen der Bewohner*innen. „Ich hatte es immer gut, ein Dach über dem Kopf, eine glückliche Familie, wir sind zusammen gereist, meine Geschwister und ich konnten alle studieren“, sagt Assaf. „Menschen, die in so ein Umfeld geboren wurden, haben die Pflicht, etwas für die zu tun, denen es schlechter geht.“

Freiwillige Genelle Locario (Mitte) aus Trinidad und Tobago beim Englischunterricht.

Sie fing mit Frühstück und Ausflügen an, weil die Kinder das Cartagena außerhalb ihrer Siedlung nicht kannten. Damals arbeitete Assaf noch Vollzeit in der Tourismusagentur und kümmerte sich nur an den Wochenenden um die Stiftung. Mittlerweile berät sie freiberuflich kleine und mittlere Unternehmen in Geschäftsführung, Prozessoptimierung und Marketing, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen und mehr Zeit zu haben. Und statt Frühstück geben Ehrenamtliche Englischstunden, weil das nachhaltiger hilft. Im Mai fingen sie an. Derzeit unterrichten sie 51 Kinder und 16 Erwachsene.

Die Kinder und Jugendlichen spricht Asaaf auf der Straße an. Sie umarmt sie, lacht, erklärt eindringlich und liebevoll. Fragt sie, wie sie sich ihr Leben vorstellen. Ob sie mit 16 Jahren Vater oder Mutter werden oder eine bessere Zukunft für sich und ihre Familie aufbauen wollen. Sie geht zu den Eltern nach Hause und erklärt ihnen, dass der Unterricht eine einmalige Chance ist. Denn viele Eltern sehen es lieber, wenn die Kinder früh Geld verdienen, anstatt langfristig auf einen besseren Job zu hoffen.

Das Misstrauen gegenüber Weißen sitzt tief

Das Vertrauen der Familien hat sich die Argentinierin hart erarbeitet. Sie musste lernen, dass die Hautfarbe in Kolumbien eine große Rolle spielt. „Ich habe mich nie als Weiße gefühlt, sondern als Argentinierin“, sagt Assaf. „Aber für die Schwarzen hier ist klar: Ich bin keine Afro, also bin ich eine Weiße.“ Das Misstrauen gegenüber Weißen sitze tief. Und noch etwas musste sie schmerzhaft erfahren: „Die meisten haben die Hoffnung verloren.“ Das merke man erst nicht, weil sie so fröhlich seien und viel lächelten. Doch es fehle ihnen an Vertrauen – auch in sich selbst.

Seit Jahrzehnten kämpfen die Familien gegen einen mächtigen Gegner. Eine der reichsten Familien Kolumbiens will im Norden Cartagenas eine 1.000 Hektar große Luxus-Planstadt samt Yachthafen errichten.Serena del Mar“ heißt das Mammutprojekt. 2017 hat das oberste kolumbianische Verwaltungsgericht endgültig bestätigt: Die Stadtverwaltung muss die 700 Familien aus Marlinda und Villa Gloria umsiedeln, mindestens zwei Kilometer vom Meeresufer weg in die Mangrovensümpfe.

Anwältin Soledad Caballero kämpft gegen die Umsiedlung ihrer Gemeinde.

„Unsere letzte Chance ist die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte in Washington“, sagt Anwältin Caballero, die die Klage vorbereitet. Die afrokolumbianischen Gemeinschaften leben seit der Kolonialzeit auf dem Gebiet. Indigene Gemeinschaften sind rechtlich besonders geschützt. „Wenn wir zeigen, dass wir eine umweltbewusste, saubere und organisierte Gemeinde sind, wird es schwieriger, uns umzusiedeln“, sagt Caballero.

Assafs neueste Idee passt da perfekt: eine Papaya-Allee. „Papayas wachsen schnell, spenden Schatten und die Bewohner können sie essen oder verkaufen“, sagt Assaf. Jeden Samstag räumen alle zusammen an einem Häuserblock eine halbe Stunde lang den Müll weg. Sind alle Blocks müllfrei, wird gepflanzt. Die erste Grundreinigung haben die Bewohner*innen bereits erledigt.

Daneben kümmert sich Assaf weiterhin um einzelne Schicksale wie das der Witwe Sindy Valiente. Assafs heutiger Rundgang durch das Viertel ist fast zu Ende, als sie einen Jungen sieht, der sein Gesicht an einen Zaun drückt und weint. Sein ganzer Körper zittert, als ihn Assaf in den Arm nimmt. Der Zehnjährige ist der Cousin des Mörders von Valientes Ehemann. „Schau mich an,“ sagt sie, „es ist nicht deine Schuld, das ist sein Leben und du hast dein eigenes. Du kannst es besser machen.“

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Von Katharina Wojczenko, Bogota

Katharina Wojczenko hat in Köln, Madrid und Paris studiert und anschließend als Reporterin bei den bayerischen Regionalzeitungen „Passauer Neue Presse“, „Main-Echo“ und „Nordbayerischer Kurier“ gearbeitet. Ihre Schwerpunkte sind soziale und gesellschaftspolitische Themen. Seit Herbst 2017 ist sie als freie Journalistin und Übersetzerin in Kolumbien unterwegs, weil sie dieses verrückte Land einfach nicht loslässt.

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Eva TempelmannMünster / Lima
Bis zu 40 Prozent der Frauen machen bei der Geburt ihrer Kinder gewaltvolle, teils traumatische Erfahrungen im Kreißsaal. Lena Högemann wirft in ihrem Buch „So wollte ich mein Kind nicht zur Welt bringen“ einen feministischen Blick auf die Geburtshilfe und zeigt Wege auf für mehr Selbstbestimmung.

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