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Anwältin der Unterdrückten
Porträt einer Ausnahme-Türkin

8. Juni 2022 | Von Ellen Rudnitzki
Die türkische Menschenrechtsanwältin Eren Keskin hat mit ihrer Hartnäckigkeit schon viele vor dem Gefängnis bewahrt. Fotos: Ellen Rudnitzki

Wer sich in der Türkei gegen die Herrschenden auflehnt, gerät schnell in die Mühlen der Justiz. Häufig sind es Angehörige ethnischer Minderheiten oder Menschen mit einer anderen sexuellen Orientierung, die zu „Terrorist*innen“ oder „Spion*innen“ erklärt werden. Unterstützung bekommen viele von der mutigen Menschenrechtsanwältin Eren Keskin, die dabei selbst immer wieder in den Fokus der Ermittler gerät.

Von Ellen Rudnitzki, Istanbul

Es ist drei Uhr nachmittags an einem kalten, windigen Tag in der türkischen Metropole Istanbul. Nur langsam kommt die Sonne zwischen den Wolken hervor. In einer schmalen, verwinkelten Gasse, die von Istanbuls belebtester Einkaufsstraße, der Istiklal, zum Bosporus führen, hat die Menschrechtsanwältin Eren Keskin ihr Büro in einem schlichten Haus mit kleinem Vorgarten.

Seit zwei Stunden wartet sie auf eine Mandantin, doch die innere Unruhe sieht man ihr nicht an. Die langen schwarzen Haare hochgesteckt, die riesigen braunen Augen mit Kajal umrandet, die Lippen rot geschminkt sitzt zwischen Bergen von Akten. Dieses Outfit gehört zu Eren Keskin wie eine zweite Haut, fast so als gäbe es ihr Halt in einem turbulenten, oft gefährlichen Alltag.

Kurz vor vier ruft die Mandantin an: Der Bus stecke fest, es gehe nicht vor und zurück. Eren Keskin ist erleichtert. Als Transsexuelle ist Ece Korkmaz (Name geändert) immer wieder Übergriffen ausgesetzt. Da ist es gut, dass es „nur“ ein Verkehrschaos ist, das sie aufhält. Eren Keskin kennt die Mandantin schon eine ganze Weile. Wegen ihrer sexuellen Identität kommt es immer wieder zu bedrohlichen Situationen von häuslicher Gewalt. In letzter Minute konnte sie sich retten, geflohen aus der eigenen Wohnung. Eigentlich wollte Ece Korkmaz eine Anzeige aufgeben, doch sie hat Angst.


 

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Dass Frauen auf Polizeistationen verspottet, vergewaltigt oder sexuell belästigt werden, ist keine Seltenheit. „Leider“, sagt Eren Keskin, „ist es immer noch üblich, dass Frauen von offiziellen Stellen keinen Schutz erfahren, sondern im Gegenteil erneut misshandelt werden.“ Seit vielen Jahren kämpft Eren Keskin dagegen an.

Keskin setzt sich u. a. für Menschen ein, die eine andere sexuelle Orientierung haben als die heterosexuelle Norm.

Seit Mitte der 80er Jahre ist sie Mitglied im Menschenrechtsverein IHD und gegenwärtig Leiterin von dessen Istanbuler Sektion. 1997 gründete sie das Rechtshilfeprojekt „Rechtliche Hilfe für Frauen, die von staatlichen Sicherheitskräften vergewaltigt oder auf andere Weise sexuell misshandelt wurden“. Vor knapp 30 Jahren hat sie sich als Anwältin niedergelassen. Von Beginn an hat sie sich für die Schwachen in der türkischen Gesellschaft eingesetzt: Frauen, ethnische Minderheiten, Menschen mit einer anderen als einer heterosexuellen Orientierung.

Also Gruppen, die vom Staat aus den verschiedensten Gründen nicht goutiert werden: Sei es, weil Gleichberechtigung immer noch ein heikles Thema in der türkischen Gesellschaft ist, sei es, weil Kurd*innen schnell in den Verdacht kommen, Sympathisant*innen oder Unterstützer*innen der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und damit sogenannte „Terrorist*innen“ zu sein, sei es, weil eine andere sexuelle Orientierung angeblich vom Islam nicht gutgeheißen wird.

Manchmal trifft es auch einfach Menschen, die der herrschenden Regierung unbequem sind und so kurzerhand zu „Spion*innen“ erklärt werden. All diese gehören – neben dem ganz normalen Alltagsgeschäft – zu Eren Keskins Klientel. Eine Klientel, die sich ein Anwaltshonorar meist nicht leisten kann. Dafür gibt es mittlerweile ein funktionierendes Netzwerk von Unterstützer*innen, die einspringen.

Der Vorwurf: „Beleidigung des Türkentums“

Bei ihrer Arbeit gerät die Anwältin auch selbst immer wieder in den Fokus der Ermittler: Nicht nur, dass in der Türkei die Justizbehörden den Anwalt oder die Anwältin oft gleichstellen mit den Mandant*innen, auch Eren Keskins Engagement  in der Menschenrechtsorganisation hat ihr selbst mittlerweile mehr als 180 Strafverfahren eingebracht. 143 sind noch anhängig und gehen in die höheren Instanzen. Zum Tragen kommt dabei meist der berüchtigte Paragraf 301, der die – Zitat – „Beleidigung des Türkentums, der Republik sowie der Institutionen und Organe des Staates“ unter Strafe stellt.

In ihrem Büro empfängt sie Mandant*innen und bereitet Prozesse vor.

Selbst ins Gefängnis musste die Anwältin nur einmal: 1995. Da wurde sie zu zweieinhalb Jahren verurteilt, weil sie das Wort „Kurdistan“ benutzt hatte. Damals ein Kapitalverbrechen. Wegen einer Gesetzesänderung wurde das Urteil dann in sechseinhalb Monate umgewandelt. Keine schöne Zeit, doch etwas, das zu ihrem Leben gehört. Sie sagt rückblickend: „Du denkst: Das ist alles ziemlich sinnlos. Sie sperren dich ein, weil sie deine Ideen nicht mögen. Es ist ein seltsames Gefühl, es ist völlig unlogisch, aber du kannst nichts machen.“

Und immer noch hängt das Damoklesschwert einer erneuten Inhaftierung über ihr. „Eines Morgens wirst du wach, sie teilen dir mit, dass einer deiner Fälle entschieden ist und plötzlich musst du ins Gefängnis.“ Doch unterkriegen lässt sie sich deshalb nicht. Seit knapp 40 Jahren lebt und arbeitet Eren Keskin mit der Willkür der Justiz, hat sich an die Amplituden dieses Lebens gewöhnt. „Ich versuche, das alles abzuschütteln, sonst könnte ich meine Arbeit ja gar nicht mehr richtig machen.“

Auch ein Kampf um Selbstbestimmung

Tatsächlich wurden bisher viele Urteile gegen sie von höheren Instanzen von Gefängnisstrafen in Geldstrafen umgewandelt – eine weit höhere Summe, als Keskin von ihrem Anwaltsgehalt hätte zahlen können. Dabei gab es immer Freund*innen und Unterstützer*innen, die ausgeholfen haben. Oft waren Anwaltskolleg*innen darunter, die sie auch vor Gericht vertreten. Sie sind Erens Rückhalt, ihr soziales Netz und eine Gruppe, die sich regelmäßig in ihrer Wohnung zum gemeinsamen Kochen und Essen trifft, neugierig beäugt von drei Katzen, die darauf hoffen, ein Stück abzubekommen.

Da wird nicht nur wild diskutiert, sondern auch viel gelacht, spült doch das Nationalgetränk, der Anisschnaps Rakı, den Unmut für ein paar Stunden hinunter. Dann machen alte Geschichten die Runde: So war Erens Aussehen immer wieder Thema in der Boulevardpresse: Nachdem sie sich für die Freiheit der kurdischen Sprache eingesetzt hatte, schrieb eine Zeitung: „Ist das wirklich dein Job? Geh doch lieber und werd` Model.“ Als eine der Anwält*innen des Kurdenführers Abdullah Öcalan wurde sie in den Medien als „Öcalans Täubchen“ bezeichnet.

Bei allem Spaß, den sie jetzt beim Erzählen haben – Eren Keskin ist froh, dass ihr Aussehen heute kein Thema mehr ist. Musste sie sich doch schon auf dem Gymnasium, als Jeans und Parka quasi zum politischen Bekenntnis gehörten, für ihr Outfit – den Minirock, die hohen Absätze und die geschminkten Augen – rechtfertigen. Dem Mainstream zu folgen war Eren Keskins Ding noch nie. Das liege wohl an ihrer Kindheit, meint die heute 63-Jährige.

Rückblick: Geboren und aufgewachsen ist sie in Bursa, im Westen der Türkei. Der Vater, ein Banker, war Kurde, die Mutter Tscherkessin. Da hat Eren Keskin schon früh gelernt, was es heißt, zu einer ethnischen Minderheit zu gehören, und auch, wie man sich trotzdem behaupten kann. Ihr großes Vorbild war ihre Oma, die, so erzählt man sich in der Familie, wohl als erste ihrer Generation ein Chemieingenieur*innen-Studium absolviert hatte. An ihre Kindheit erinnert sie sich gerne: „Ich konnte mich immer ausprobieren, Verbote gab es kaum, weder für meinen Bruder noch für mich als Mädchen.“ So habe sie schon früh gelernt, sich nicht von Obrigkeiten einschüchtern zu lassen.

Ein Kampf, der sich lohnt

Heute versteht Eren Keskin unter Obrigkeit durchaus nicht nur die zurzeit regierende islamisch konservative AKP unter dem Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Nach Eren Keskins Erfahrung sind laizistische Regierungen keinen Deut besser. Die Wurzeln, meint sie, lägen ganz woanders: So sei seit der Gründung der Türkei im Jahre 1923 dem Volk gewaltsam eine Meinung aufgepfropft worden, zum Vorteil der Herrschenden, häufig begleitet von Repression und Unterdrückung.

Ihre Lebensfreude hat Keskin trotz der vielen Einschüchterungsversuche nie verloren (Foto: privat).

Erinnerungen an Massenverhaftungen und Foltergefängnisse, so Keskin, hätten zu Traumatisierungen geführt, die eine wirkliche demokratische Grundhaltung verhinderten und die Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit manchmal zu einem Kampf gegen Windmühlenflügel machten. Ein Kampf, den zu kämpfen es sich lohnt, findet sie. Auch wenn sie von dem, was sie erwartete, nur eine schwache Ahnung hatte, als sie nach dem Abitur ein Jurastudium aufnahm.

Es sei eine „wilde“ und unbeschwerte Zeit gewesen, sagt sie. Später heiratete sie einen Anwaltskollegen. Doch eine traditionelle Ehe war nichts für sie. Als ihr damaliger Mann, dem selbst eine politisch motivierte hohe Haftstrafe drohte, ins deutsche Exil ging, ließ sie sich scheiden und freute sich über die neugewonnene Freiheit. Selbst die Türkei zu verlassen, daran hat sie nie gedacht. Sie möchte sich für Menschenrechte einsetzen, in dem Land, in dem sie zu Hause ist, für die Menschen, die ihre Nachbar*innen sind. „Ich gehöre in die Türkei“, sagt sie.

Wenn sie in ihrem Büro sitzt und das Fenster geöffnet ist, hört sie ganz leise die Geräusche eines „normalen“ Lebens zu sich hereinkommen: Nur hundert Meter entfernt liegt die Flaniermeile Istiklal. Auf zwei Kilometern drängen sich Kleidergeschäfte, Musikläden, Kneipen und Cafés. Dicht an dicht schieben sich die Menschen und Eren Keskin wird gerne Teil von ihnen, schüttelt die Gedanken ab an die staatlichen Drangsalierungen, aber auch an die vielen Drohungen, darunter auch Morddrohungen rechter Gruppierungen, mit denen ihre Social-Media-Kanäle volllaufen.

Eingeschüchtert ist sie nicht. Manchmal erstattet sie Anzeige, passiert ist noch nichts. Es sei ähnlich wie mit den Strafanzeigen, mit denen sie permanent überzogen wird: „Wenn ich diesen Dingen erlauben würde, mein Leben zu kontrollieren, hätte ich verloren.“ Und das gilt auch für das bislang letzte Urteil: 2021 wurde sie zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt, weil sie aus Solidarität mit der prokurdischen Zeitung „Özgür Gündem“ einige Jahre symbolisch die Funktion der Chefredakteurin übernommen hatte. Natürlich geht sie in Berufung.

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Von Ellen Rudnitzki, Köln

Ellen Rudnitzki ist freie Journalistin und Filmemacherin. Sie war Autorin und Produzentin für DW und WDR, häufig in Südamerika. Seit 20 Jahren arbeitet sie außerdem als Psychoanalytikerin mit eigener Praxis. Seit 2017 ist sie Geschäftsführerin und Teilhaberin der Agîr Media (UG) in Köln.

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Bis zu 40 Prozent der Frauen machen bei der Geburt ihrer Kinder gewaltvolle, teils traumatische Erfahrungen im Kreißsaal. Lena Högemann wirft in ihrem Buch „So wollte ich mein Kind nicht zur Welt bringen“ einen feministischen Blick auf die Geburtshilfe und zeigt Wege auf für mehr Selbstbestimmung.

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