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„Ich möchte meine Arbeit überflüssig machen“
Erste Gender-Redakteurin in Peru

16. November 2022 | Von Eva Tempelmann
Die Berichterstattung in peruanischen Medien ist von männlichen Perspektiven geprägt. Lucia Solis Reymer will das ändern. Fotos: Eva Tempelmann

Peru ist eines der Länder mit der höchsten Gewaltrate gegenüber Frauen weltweit. Die Bewegung „Ni una menos“ hat das Thema in den vergangenen Jahren in die Öffentlichkeit geholt und angeprangert. Nun ziehen die Medien nach. Lucia Solis Reymer ist seit 2020 Redakteurin für Gender-Fragen bei „La República“, einer der auflagenstärksten Mediengruppen Perus.

Von Eva Tempelmann, Lima / Madrid / Münster

Ein Blick in peruanische Tageszeitungen und Nachrichtenportale: Männer dominieren Texte und Bilder, kommen als Politiker und Experten zu Wort. Frauen stehen in der zweiten Reihe, werden als Opfer von Gewalt, Objekt der Begierde oder Hüterin der Familie dargestellt. Als sich jüngst zwei Frauen des öffentlichen Lebens zu zwei in Peru emotional behandelten Themen äußerten – Fußball und dem Recht auf Abtreibung – überzogen Medien aus allen Lagern sie mit sexistischen Kommentaren. Die misogyne Berichterstattung über Mayra Couto und Yanira Dávila sorgte für großen Aufruhr in der Öffentlichkeit. „Wir haben es satt, zu Objekten ohne Mitspracherecht degradiert zu werden“, empörten sich Frauen in den Sozialen Netzwerken.  

„Diese Art von Berichterstattung dient nur dazu, Klickzahlen und Reichweite zu erhöhen“, findet auch Lucia Solis Reymer. Die 29-Jährige ist feministische Journalistin und Autorin des Buches „A contracorriente“, zu Deutsch „Gegen den Strom“, hat Gender und feministische Bewegungen in Buenos Aires und Madrid studiert. Seit 2019 arbeitet sie bei „La República“, einer linksliberalen Tageszeitung in Peru, die mit den dazugehörigen Nachrichtenportalen eines der auflagenstärksten Medien des Landes ist.


 

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Kritischer Blick auf die eigene Berichterstattung

Wenige Monate nach ihrem Jobeinstieg bot die Redaktion Solis eine neu geschaffene Stelle als Gender-Redakteurin an. Sie solle das Medium zu Genderfragen beraten und einen kritischen Blick auf die hauseigene Berichterstattung werfen. Solis sagte sofort zu. „Es ist höchste Zeit für einen Perspektivwechsel“, ist die Peruanerin überzeugt.

Auch „La República“ war zuletzt wegen sexistischer Texte und eines der sexuellen Belästigung beschuldigen Online-Redakteurs in die Kritik geraten. Ihre Ernennung zur Redakteurin für Gleichstellungsfragen sieht Solis weniger als Marketingstrategie denn als Eingeständnis des Unternehmens, dass es offensichtlich ein Problem mit der vermeintlich objektiven Berichterstattung im Land gibt.

Gender in allen Ressorts

Mit der neuen Stelle statuiert die Zeitung ein Exempel in Peru und zieht gleichzeitig großen internationalen Zeitungen nach, die bereits Gender-Redakteur*innen in ihren Teams haben. Vorreiterin war im Januar 2018 die „New York Times“, gefolgt von der spanischen Zeitung „El País“ und zahlreichen Medien in Argentinien, darunter etliche im ländlichen Raum. In Deutschland gibt es keine vergleichbaren Stellen innerhalb der Redaktionen. Allerdings erhebt der Verein „Pro Quote“ seit zehn Jahren den Anteil von Frauen in Führungspositionen von Print- und Online-Redaktionen und formuliert daraus Forderungen für die deutsche Medienlandschaft.

Lucia Solis Reymer setzt sich für die Gleichstellung der Geschlechter ein. | Foto: privat

Solis‘ Aufgabe bei „La República“ ist es, Gender als Thema in allen Ressorts zu etablieren und konkrete Hilfestellungen zu geben: Wie formulieren wir gute, nicht sexistische Schlagzeilen? Welche Bilder wählen wir aus? Wie berichten wir über Männer und Frauen, jenseits von Stereotypen und Stigmatisierungen? „Ich möchte die Mitarbeitenden befähigen, die strukturellen Unterschiede und Ungleichheiten in der Berichterstattung über Männer und Frauen zu verstehen und nach Alternativen zu suchen“, erklärt Solis ihre Rolle. Ein geschlechtersensibler Journalismus ist für sie vor allem eine Haltung, die Gewalt, reelle oder symbolische, verurteilt und nicht reproduziert.

Gewalt gegen Frauen

Peru ist eines der Länder mit der höchsten Gewaltrate an Frauen weltweit. Nach Angaben des nationalen Ombudsbüros wurden im vergangenen Jahr 147 Frauen aufgrund ihres Geschlechts ermordet, mehr als die Hälfte davon von ihren Partnern oder Ex-Partnern. Seit Beginn der Pandemie ist die häusliche und sexuelle Gewalt gegenüber Frauen um mehr als das Doppelte gestiegen. Mehr als 5.000 Mädchen und Frauen gelten seit 2021 als vermisst.

Die feministische Bewegung „Ni una menos“, zu Deutsch „Nicht eine weniger“, die 2015 in Argentinien begann und seitdem in ganz Lateinamerika aktiv ist, fordert ein Ende der Gewalt gegen Frauen. Auch das fehlende Mitspracherecht von Frauen am eigenen Körper ist ein Anliegen der Bewegung. Abtreibungen sind in Peru verboten. Immer wieder berichten Medien von Fällen wie dem einer Elfjährigen, die durch eine Vergewaltigung schwanger wurde und an den Folgen einer heimlichen Abtreibung starb. In den Sozialen Medien gehen Hashtags wie #PerúPaísDeVioladores, zu Deutsch „Peru, Land der Vergewaltiger“, viral.

Peru ist eines der Länder mit der höchsten Gewaltrate an Frauen weltweit. | Foto: Yemayá Batucada

Journalismus und Aktivismus zusammendenken

Welchen Einfluss die Medien auf diese Realität haben sei in ihrem Medienstudium überhaupt kein Thema gewesen, sagt Solis halb wütend, halb verwundert. Der Status quo – ein männlich geprägter Blick auf die Welt – sei nicht hinterfragt worden. 2016 geht Solis nach Argentinien, um dort feministische Bewegungen zu studieren. Sie vernetzt sich mit Aktivist*innen, geht in Buenos Aires mit Hunderttausenden auf die Straße und fordert ein Ende der patriarchalen Strukturen und machistischen Gewalt in Lateinamerika.

„Lange Zeit dachte ich: Das sind zwei verschiedene Welten: Lucia, die Journalistin, und Lucia, die Aktivistin.“ In ihrer jetzigen Position als Genderbeauftragte in einem großen Medienunternehmen sehe sie, dass beides hervorragend zusammenpasse. Sie sieht ihre Arbeit vor allem als eine pädagogische Aufgabe: Mit den Redakteur*innen und Vorgesetzten ist sie im ständigen Austausch, gibt Schulungen zu geschlechtersensiblem Journalismus und erklärt, warum zum Beispiel eine Überschrift wie „Verbrechen aus Leidenschaft“ nicht verwendet werden kann, weil sie männliche Gewalt beschönigt oder Frauenmorde gar rechtfertigt.

„Wir müssen wegkommen von dem Blick auf Frauen als Objekte, von dem Fokus auf Äußerlichkeiten und unnötigen Detailbeschreibungen: Wie oft hat der Mann auf die Frau eingestochen? Welche Kleidung trug sie? Diese Art von Berichterstattung ist entwürdigend und in keinster Weise konstruktiv.“ Als Gender-Redakteurin will sie positive Rollenbilder fördern: Frauen als Akteurinnen, Männer, die den Machismo kritisch hinterfragen. Vor allem gehe es ihr darum, mehr Perspektiven und Stimmen zu zeigen als die wenigen, die in den Medien vorherrschen.

Solis beim internationalen Frauentag in Lima, kurz vor Beginn der Pandemie und einer monatelangen Ausgangssperre. | Foto: Yemayá Batucada

Ein langsamer Prozess

Die Auseinandersetzung mit den strukturellen Ungleichheiten der peruanischen Gesellschaft ist ein langsamer und mühsamer Prozess. Der Machismo und die patriarchalen Strukturen sitzen tief und sind überall spürbar: bei der Arbeit, auf der Straße, in den Familien. Auch in den Medien ist der Ton immer wieder herablassend: Als sich die eingangs erwähnte Moderatorin Yanira Dávila beim peruanischen Presserat über einen von „La República“ veröffentlichten Artikel beschwerte, weil dieser männliche Aggressionen ihr gegenüber provozierte, antwortete das Medienunternehmen lapidar: Es werde sich nicht einer Modeerscheinung des Feminismus beugen.

Solis zeigt sich dennoch optimistisch. „Die meisten Vorbehalte gegen den Feminismus beruhen auf Fehlinformationen, nicht auf Ablehnung per se.“ In der Redaktion beobachte sie eine große Bereitschaft, neue Sichtweisen anzunehmen und normalisierte Praktiken zu verlernen. „Der Wunsch nach einem verantwortungsvolleren Umgang mit den Inhalten ist groß.“

Erste Veränderungen zeigen sich bereits in den Redaktionen der Mediengruppe: Heute sind sechs der elf Mitglieder im Redaktionsausschuss, der dem Medium beratend zur Seite steht, Frauen. In der Online-Redaktion ist der Anteil von Frauen und Männern nahezu ausgewogen. Auch in der Presselandschaft im Allgemeinen tut sich etwas: Seit 2020 gibt es mit María Mohme und Frida Delgado gleich zwei Frauen an der Spitze der Peruanischen Presserats, der die peruanischen Medien auf die Einhaltung ethischer Regeln im Journalismus überprüft.

Langfristig will Solis den Gender-Ansatz als wichtige Ressource in der Redaktion normalisieren. Ihr Wunsch für die Zukunft: „Im Grunde möchte ich, dass eine Stelle wie meine überflüssig wird, weil wir das respektvolle Miteinander längst verinnerlicht haben.”

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Von Eva Tempelmann, Münster / Lima

Eva Tempelmann hat 2014 bis 2020 mit ihrer Familie in Peru gelebt und dort als freie Journalistin, Übersetzerin und Lektorin gearbeitet. In ihren Reportagen, Interviews und Analysen berichtet sie über Umweltkonflikte in Peru, Menschenrechte und soziale Bewegungen. Sie ist Co-Autorin des Reiseführers Peru & Westbolivien (Stefan Loose, 2018) und Peru & Bolivien (Marco Polo, 2020). Mehr unter: http://www.evatempelmann.com.

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