An Italiens Schulen gibt es keine verbindlichen Strukturen für Sexual- und Beziehungserziehung. Stattdessen sollen staatliche Mittel künftig in Fruchtbarkeitsprogramme fließen. Eine Initiative in Palermo setzt sich dafür ein, dass im Unterricht offener über Sex und Liebe gesprochen wird.
Zusammenfassung:
In Italien fehlt es an verbindlicher Sexual- und Beziehungserziehung – stattdessen setzt die Regierung auf Fruchtbarkeitsförderung. In Palermo wehren sich Jugendliche und Expertinnen wie Giada Saguto und Francesca Barbino gegen konservative Rollenbilder und fordern Aufklärung zu Konsens, Respekt und Gewaltprävention. Ihre Initiative bringt mehr als 6.000 Unterschriften – ein starkes Zeichen für Selbstbestimmung und gegen das Schweigen im Klassenzimmer.
Von Helen Hecker, Palermo
Im Klassenzimmer ist es still. Sexualpädagogin Giada Saguto blickt in die Runde. Auf dem Boden liegen zwei Zettel, auf denen „wahr“ und „falsch“ steht. Die Aufgabe scheint einfach: „Ist Eifersucht eine Form von Liebe?“ Zögernd treten die Jugendlichen vor, einige lachen verlegen. Für viele gehört es längst zur Normalität, mit der Standortfunktion des Smartphones den Partner*in zu überwachen oder Passwörter auszutauschen. „Wenn ich weiß, wo du bist, muss ich mich nicht sorgen“, ist eine der viele Begründungen.
Saguto widerspricht nicht, lässt sie diskutieren und zweifeln. Am Ende, erzählt sie später, merken viele Jugendlichen, dass solche Praktiken keine Fürsorge sind, sondern Kontrolle. „Bei einer holistischen Sexual- und Beziehungserziehung geht es darum, junge Menschen ihre eigenen Muster hinterfragen zu lassen – nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern in einem geschützten Raum.“

| Foto: Maghweb
Wenn Aufklärung auf der Strecke bleibt
Während Sexualpädagog*innen wie Saguto versuchen, patriarchale Denkmuster zu hinterfragen, werden in Rom politische Entscheidungen getroffen, die ihre Arbeit künftig erschweren. 500.000 Euro – ursprünglich für Programme zur Sexual- und Beziehungserziehung vorgesehen – sollen künftig in Fortbildungen für Lehrkräfte fließen, die Fruchtbarkeit bei Mädchen und Jungen fördern sollen.
Minister Luca Ciriani verteidigt dies mit Blick auf Italiens demografische Krise als „prioritäre Zielsetzung“: Mit weniger als 400.000 Geburten pro Jahr ist das Land europaweit Schlusslicht. Für Giorgia Melonis Regierung sind traditionelle Familien- und Rollenbilder daher Antwort auf gesellschaftliche Herausforderungen.
Oppositionsparteien und Organisationen wie „ActionAid“ kritisieren dagegen ein ideologisch motiviertes Manöver, das Gewaltprävention und Gleichstellungsarbeit verdrängt, dafür aber konservativen Pro-Vita-Gruppen entgegenkommt. So warnt die Politikwissenschaftlerin Marina Calloni von der Universität Mailand-Bicocca vor einer „Verwirrung der Realität“: Es sei absurd, Sexualität mit Unfruchtbarkeit gleichzusetzen – nicht Sterilität, sondern soziale und wirtschaftliche Bedingungen seien die wahren Ursachen der niedrigen Geburtenrate.

| Foto: Stella Romano / Piacere di Conoscerci
Über Hürden und Blockaden
Auch die Sexualforscherin Francesca Barbino wundert sich kaum über diesen Kurs. Schon bevor die Kürzungen in Rom beschlossen wurden, forschte sie am Institut Arrupe in Palermo zur Sexualerziehung an italienischen Schulen. Dabei stieß die Expertin immer wieder auf dasselbe Problem: Sexualerziehung in Italien ist ein Flickenteppich. Anders als in Deutschland, wo sie seit den 1970er Jahren verpflichtender Bestandteil des Lehrplans ist, fehlt in Italien jegliche nationale Regelung. „Ohne Gesetz hängt alles von einzelnen Schulleitungen ab. Das führt zu massiven Ungleichheiten“, sagt Barbino.
Die Palermitanerin beschreibt, wie der Zugang zu Schulen in den letzten Jahren immer schwieriger wurde. „Plötzlich müssen wir Lebensläufe einreichen, Sondergenehmigungen holen. Manche Schulleitungen sagen Veranstaltungen in letzter Minute ab.“ Dahinter stecke nicht nur Bürokratie, sondern politischer Druck.
Zudem habe das Bildungsministerium jüngst die Hürden weiter erhöht: Mit dem „informed consent“ müssen Eltern künftig ausdrücklich zustimmen, wenn ihre Kinder an einem Sexualkunde-Workshop teilnehmen. „So etwas gab es noch nie“, erklärt Barbino. Es sei Teil einer konservativen Offensive gegen die angebliche ‚Gender-Ideologie‘. Für viele Schulleitungen bedeutet das: lieber blockieren, als sich angreifbar zu machen.

Gegen das Schweigen im Klassenzimmer
Barbino will mit ihrer Forschung etwas dagegen tun. Parallel zur Veröffentlichung ihrer Studie gründete sie unter dem Namen „Piacere di conoscerci“ (Lust, uns kennenzulernen) eine Initiative, die Schüler*innen von acht weiterführenden Schulen in Palermo einbezog. Mit ihnen entwickelte sie Fragebögen, sammelte Erfahrungsberichte und organisierte Fokusgruppen, an denen auch Eltern und Lehrkräfte teilnahmen. Obendrein sammelten sie Unterschriften für eine Petition, welche die Stadtverwaltung von Palermo aufforderte, Sexualerziehung an allen Schulen der Stadt einzuführen.
Eine der Jugendlichen, die von Anfang an dabei war, ist die 17-jährige Mary Burriesci. Sie ist Schülerin an einem naturwissenschaftlichen Gymnasium: „Ich habe mitgemacht, weil ich jeden Tag sehe, wie wenig Bewusstsein es für ungesunde Beziehungsmuster gibt und wie oft Grenzen überschritten werden.“ Mitschüler, die Catcalling als Flirt verstehen; Paare, die den ganzen Tag kontrollieren, wer was liked. „Viele verstehen gar nicht, dass ihr Verhalten falsch ist. Wenn niemand es klar benennt, wird es schnell normal.”
In Marys Schule gibt es keine Sexualerziehung, nur einen jährlichen Vortrag von Mediziner*innen über sexuell übertragbare Krankheiten. Wichtige Themen wie Konsens, Respekt oder geschlechtsspezifische Gewalt fehlen. Auch als 2024 die 22-jährige Studentin Sara Campanella auf Sizilien von einem Kommilitonen auf offener Straße erstochen wurde, schwieg die Schule.
Der Fall löste in Italien eine neue Protestwelle gegen Femizide aus. Viele Jugendliche in Palermo waren besonders betroffen, da die Studentin aus einem Ort in der Nähe der Stadt stammte. Mary erinnert sich, dass das versprochene Gespräch über den Fall im Unterricht ausblieb – stattdessen schrieben sie eine Klassenarbeit. Von den Erwachsenen käme wenig, sagt sie. „Aber unter uns gibt es das Bedürfnis, laut zu werden.“ Mit selbstorganisierten Flashmobs, Diskussionsrunden und Sitzstreiks machten die Jugendlichen ihrem Frust Luft.
Warum Sexualerziehung über Leben entscheidet
Giada Saguto, Expertin für Sexualerziehung bei der italienischen Kinderrechtsorganisation EDI Onlus, weiß, wie stark kulturelle Aspekte das Bild von Sexualität beeinflussen. „Wenn Medien – wie lange Zeit Berlusconis Mediaset – immer wieder Frauen als sogenannte „Vallette“, also dekorative Assistentinnen, zeigen, in Filmen fast nur heterosexuelle Beziehungen vorkommen und in Märchen noch immer die Prinzessin vom Prinzen gerettet wird, dann prägt das den Blick junger Menschen.“ Hinzu komme der Einfluss von Religion und Kirche, die gesellschaftliche Debatten über sexuelle Identität, Abtreibung und Familie maßgeblich bestimmen.
Wie groß der soziale Druck durch solche Haltungen im Alltag sein kann, weiß Saguto aus eigener Erfahrung. Ein Vorfall blieb der bisexuellen Pädagogin besonders im Gedächtnis: Auf die Frage, ob Bisexualität nur eine Phase sei, erklärte eine anwesende Lehrerin vor der Klasse, dass sie verstehen könne, wenn junge Menschen in ihrer Sexualität verwirrt seien, „aber Erwachsene, die bisexuell sind, sind einfach gestört“. Der Satz traf Saguto tief. Doch statt zu schweigen, outete sie sich – um zu zeigen, wie wichtig es ist, über Sprache und Vorurteile zu sprechen. „Wenn eine Lehrkraft so etwas sagt, prägt das eine ganze Klasse.“
Trotz solcher Situationen sieht Saguto auch Erfolge: Lehrkräfte beginnen dank ihrer Fortbildungen, ihren Sprachgebrauch zu hinterfragen. Sie erzählt von einem Lehrer, der nie wieder beiläufig fragen will, ob ein Schüler „schon eine Freundin“ habe, oder einer Lehrerin, die in Schulbüchern stereotype Rollenbilder erkennt und die Texte künftig überarbeiten will. „Es sind kleine Schritte, aber sie können helfen, den Alltag zu verändern.“
Sagutos pädagogischer Ansatz orientiert sich an der „Comprehensive Sexuality Education“, einem Konzept der UNESCO und der Weltgesundheitsorganisation. Es versteht Sexualerziehung als ganzheitlichen Prozess, der über anatomische Kenntnisse und Verhütungspraktiken hinausgeht und Themen wie Gefühle, Identität, Sprache und Gleichberechtigung einbezieht. Ziel ist, junge Menschen in ihrer Selbstwahrnehmung zu stärken, damit sie Beziehungen respektvoll und frei von Angst, Scham oder Gewalt gestalten können.
„Wenn wir Jugendlichen nicht beibringen, was Konsens bedeutet, wie man Grenzen erkennt und mit Vielfalt umgeht, lassen wir sie allein mit Mustern, die Gewalt und Mobbing normalisieren“, meint Saguto. Für sie ist Sexualerziehung nicht bloß ein „Nice-to-have“, sondern ein Menschenrecht und eine Notwendigkeit für eine funktionierende Demokratie.

| Foto: Stella Romano / Piacere di Conoscerci
Hoffnung in Palermo
In der Zwischenzeit geschieht in Palermo etwas, womit niemand rechnete: Die Initiative „Piacere di conoscerci“ sammelte mehr als 6.000 Unterschriften. Mehr als 50 Vereine hatten das Manifest unterstützt. Im Juli 2024 übergaben die Jugendlichen ihre Forderungen an den Jugenddezernenten der Stadt Palermo, Fabrizio Ferrandelli. „Das war der Moment, in dem sichtbar wurde: Das ist kein Randthema. Das betrifft uns alle“, sagt Barbino stolz.
Ob die Petition tatsächlich zu strukturellen Veränderungen führt, ist offen. Doch schon jetzt ist klar: Sie hat den Nerv einer Generation getroffen und Raum für Gespräche eröffnet, die lange tabu waren. „Wir wollen nicht warten, bis der nächste Gewaltfall Schlagzeilen macht“, sagt Mary. „Wir wollen jetzt lernen, reden, verändern.“ Für sie und viele andere Gleichaltrige sind Beziehungen keine Privatsache. „Wer das sagt, übersieht, dass Gewalt und Missbrauch mitten in unserer Gesellschaft entstehen.“
Anmerkung der Redaktion:
Nach Fertigstellung dieses Artikels reichte die Partei „Lega“ einen neuen Gesetzesvorschlag im Parlament ein, der Sexual- und Beziehungserziehung an Grund- und Mittelschulen künftig komplett verbieten könnte. Laut dem umstrittenen Maßnahmenpaket wären dann nur medizinisch orientierte Unterrichtseinheiten über Themen wie Fortpflanzung und Fruchtbarkeit erlaubt. Oppositionsparteien und zahlreiche Organisationen sprechen von einem „Rückschritt ins Mittelalter“.












