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Kritische Frauenthemen in Pastellfarben
Portrait der ägyptischen Illustratorin Lamiaa Ameen

16. Juni 2021 | Von Julia Neumann
Lamiaa Ameen illustriert auf träumerische Weise harte Themen wie Depression, Sinnsuche, Freundschaft und Trennung. Fotos: Julia Neumann

Lamiaa Ameen kombiniert zarte Töne mit ernsten Themen: Die Marketing-Managerin illustriert in ihrer Freizeit die Periode, Depression und toxische Beziehungen – immer aus einer weiblichen Perspektive.

Von Julia Neumann, Kairo

Eine Illustration nackter Frauenbeine eröffnet Lamiaa Ameens Webseite: Blut fließt an ihnen herab auf den Boden und bahnt sich seinen Weg auf einer Straße entlang dunkler Gebäude Kairos. Die Grafik über die Periode ist gewagt, denn in Ägypten werden der weibliche Körper und Sexualität als private Angelegenheiten gesehen, über die nicht öffentlich gesprochen wird. „Die Illustration repräsentiert den Kampf der Frauen, über den ich am meisten reden möchte. Sie sind vielleicht Mütter, Liebende oder Single, sie arbeiten oder auch nicht – aber allen gemein ist, dass sie der Welt als mächtige Frauen gegenüberstehen.“

Ameen ist 31 Jahre, hat Kunst und Werbung studiert. „Werbung ist weder künstlerisch noch spirituell. Ich hatte das Bedürfnis, darüber hinaus viel über meine Hintergrundgeschichten, meine Gefühle und mich selbst erzählen zu wollen. Also habe ich mir ein Skizzenbuch zugelegt. Dann habe ich die Skizzen, die mir am besten gefallen haben, am Computer gezeichnet.“ Ameen arbeitet aber auch mit Bleistiften, Pastellen und Ölfarben. „Es braucht viele Wege, um seine Gefühle auszudrücken – und ich habe eine Menge Ideen.“

Ab und an arbeitet sie freiberuflich an Aufträgen. Als „Deine Korrespondentin“ angefragt hat, inspirierende Frauen für Postkartenmotive zu zeichnen, hat Ameen sofort zugesagt. „Ich nehme Angebote aber nur an, wenn sie mich inspirieren“, stellt sie klar. Ameen hat sich die Geschichten von starken Frauen ausgesucht, die sie am meisten begeistert haben. Die Jordanierin, die Frauen Kickboxen beibringt, und die „Fat Femme“ haben ihr am besten gefallen.

Beim Porträt der “Fat Femme” aus den USA geht es um den positiven Umgang mit dem eigenen Körper.

Als sie selbst anfing, Yoga zu machen, war ihr das unangenehm: „Hier in Ägypten fühlen wir uns nicht sehr wohl in unseren Körpern und damit, sie zu zeigen. Als ich die afroamerikanische Yogalehrerin gesehen habe, habe ich mich sofort verliebt. Ich mochte, wie selbstbewusst sie mit ihrem Körper umgeht.“

Frauen in all ihren Facetten

Am bekanntesten ist Ameen durch ihre digitalen Illustrationen geworden, die sie auf Instagram präsentiert: Eine Frau, die gefesselt auf der Straße sitzt und ihre Zunge nach Kaugummi-Kugeln ausstreckt, die aus einem Automaten neben ihr fallen. Eine andere Frau, die sich über einen liegenden Mann beugt und ihm Planeten aus dem Mund saugt. Eines ihrer Lieblingsbilder, das auch gerahmt über ihrem Sofa hängt, zeigt eine Frau mit blauen Haaren. Sie schaut auf die unter ihr liegende Stadt, in ihrem Bauch ist ein großes, rechteckiges Loch, das den Blick auf die blaue Farbe des Himmels frei gibt.

Knapp 14.000 Abonnent*innen hat sie mit ihrer Kunst gesammelt, die meisten von ihnen kommen aus Ägypten. Die Illustrationen sind leicht in ihren Farben, tiefgründig und schwermütig in ihrer Bedeutung. Die Resonanz auf ihre Bilder ist positiv: Vor allem Frauen fühlen sich von Ameen gut repräsentiert und verstanden.

Lamia Ameens Bilder sind wie ein Tagebuch für sie: Ihre Protagonistinnen sind auf der Suche nach Freundschaften, schwanger, zelebrieren Mutterschaft oder haben einen Freund verloren.

„Am Anfang habe ich mich verloren gefühlt und habe angefangen, diese in der Welt verlorene Person zu zeichnen.“ Sie zeigt auf ein zweites gerahmtes Bild über ihrem Sofa. Darauf sitzt eine Frau auf einer Bank, um sie herum hängen Einmachgläser, darin menschliche Gehirne und Herzen. „An diesem Punkt in meinem Leben habe ich sprichwörtlich Menschen gesammelt. Ich wollte viele Leute kennenlernen, sie um mich versammeln.“

Ihre Inspiration bekommt sie über Fotos und Bilder: Auf der Plattform „Pinterest“ sammelt Ameen in Ordnern Bilder von stylischen Varianten, das Kopftuch zu tragen, Logos und Schriftarten, Filmposter, Muster und vor allem Portraitfotos – Köpfe von Frauen; junge und ältere, mit braunen oder blauen Augen, kurzen oder langen Haaren, Piercings oder Tattoos. Besonders liebt sie Sommersprossen.

Als Frau in der sexistischen Werbebranche

Ihren Lebensunterhalt verdient Lamiaa Ameen in einer Werbeagentur. Stolz zeigt sie auf dem Computer ihre sogenannten Moodboards: Collagen mit Neonfarben, Objekten, Orten und Menschen. Diese Dateien sind ein Kunstwerk an sich, sollen aber nur einen ersten Eindruck von dem Projekt geben: In welchen Farben sollen die Bilder gehalten sein? Welche Stimmung soll bei der Betrachtung aufkommen? Ameens Stimmungstafeln, die sie beruflich fertigt, haben meist poppige, grelle Farben.

Nach Feierabend ist sie dann Künstlerin und gestaltet ihre Werke in Pastelltönen. Auch ihr Handy ist von einem sanften Hellgelb umhüllt. Ameen mag ihren Job in der Werbeindustrie, obwohl die Branche stark von männlichen Sichtweisen geprägt ist. In einer ägyptischen Werbung für Knabbergebäck beispielsweise nörgelt eine Frau an ihrem Mann herum, der Fernsehen schaut. Er greift in die Chipstüte und während er isst, verwandelt sich die Frau durch Filter in ein Häschen oder bekommt Herzaugen.

„Das ist genau der Grund, warum ich neben der Werbung noch etwas anderes machen wollte.“ Denn die Branche sei sexistisch, sagt Ameen auf diesen Werbeclip angesprochen. Für sie sei die Werbeindustrie auch nicht ethisch genug oder realistisch. Deshalb möchte sie ihre eigene Geschichte erzählen: emotional und humaner.

Gegen die Dominanz männlicher Perspektiven

Viele Illustrationen von Ameen zeigen Gebäude und Umrisse einer Stadt. In einigen von ihnen geht es um die Beziehung zwischen öffentlichem Raum und privaten Beziehungen. Für die Washington Post hat Ameen die sexuelle Belästigung von muslimischen Frauen in Moscheen bebildert. Auf dem Bild über #MosqueMeToo tanzt eine Frau mit Kopftuch, unter ihren Füßen wächst eine Pflanze, während sie elegant und selbstbestimmt einen Mann von sich schiebt.

Selfie mit Korrespondentin Julia Neumann (rechts) und Sohn (Mitte).

Sexuelle Belästigung ist ein ständiges Thema in Ägypten. Vergangenes Jahr wurde ein reicher Student der Amerikanischen Universität in Kairo zu drei Jahren Haft verurteilt, weil er massenhaft Frauen belästigt und vergewaltigt hatte. Dass er übergriffig war, war der Universität bereits seit 2018 bekannt. Doch weil er aus einer einflussreichen Familie stammt, dauerte es drei Jahre, bis er verhaftet wurde. Leider kein Einzelfall: Eine Studie der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2013 ergab, dass 99 Prozent der Frauen in Ägypten sexuell belästigt wurden – entweder verbal oder physisch.

„Hier in Ägypten haben wir viele Fälle von sexueller Belästigung“, bestätigt auch Lamiaa Ameen. „Deshalb wollte ich immer Frauen in dieser Gesellschaft unterstützen. Auf der Arbeit besteht mein ganzes Team aus Frauen und ich liebe es, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Ich liebe es, ihnen zu sagen, dass sie gut sind und eine große, erfolgreiche Kampagne stemmen können.“ Ameen ermutigt ihr Team, ihre Ansichten und Perspektiven als Frauen in ihre Arbeit einfließen zu lassen – es müssten nicht immer die männlichen Sichtweisen sein, sagt sie.

Work-Life-Balance ist schwerer für Frauen

Durch den Lockdown hat Ameen mehr Gelegenheiten zu kochen, sonst übernimmt das ihre Haushaltshilfe. Neben der Arbeit bleibt nicht viel Zeit. Ameens junger Sohn genießt ihre Aufmerksamkeit und fordert sie auch manchmal ein. „Für Männer ist es ganz normal, den ganzen Tag außer Haus zu sein“, erzählt Ameen. „Der Vater geht morgens aus dem Haus, küsst das Kind und geht. Aber ich bevorzuge es, eine Balance zu haben. Ich liebe es, am Morgen Zeit mit meinem Sohn zu verbringen, dann arbeiten zu gehen, und wenn ich nach Hause komme, Essen zu machen, mit ihm zu spielen und ihn ins Bett zu bringen. Erst dann gehe ich zurück an die Arbeit. Aber dafür bezahle ich mit meiner Gesundheit, vor allem mit weniger Schlaf.“

Einige ihrer Erfahrungen verarbeitet sie in der Kunst. „Alle meine Zeichnungen, Skizzen oder Texte drehen sich um Beziehungen. Sie nehmen viel Raum in meinem Leben ein.“ Besonders gerne fügt sie ihren Zeichnungen Planeten hinzu. „Ich glaube an Energie. Ich glaube auch, dass Gott eine Energie ist, die uns alle umgibt. Wenn ich eine Person nicht mag, dann sage ich: ‚Er strahlt eine negative Energie aus‘.“ Diese Energie drückt sie als Planeten, Sterne oder Partikel in einer Galaxie aus.

Ein Herzensprojekt, das sie vergangenes Jahr verwirklicht hat, war ein Kurzfilm über eine toxische Beziehung. Das Video zeigt eine junge Frau mit Sommersprossen, die mit einem Kaktus zusammenlebt. Die Verliebte umarmt den senfgelben Übertopf ihres Geliebten, an ihrem Finger klebt ein rotes Pflaster. In den nächsten Einstellungen malt sie den Kaktus oder er steht neben ihr, wenn sie liest. Mit der Zeit werden die Pflaster an ihren Fingern mehr. Ob das Werk biografisch ist, möchte Ameen nicht sagen. Mit dem Vater ihres Sohnes habe sie so manche Beziehungspause erlebt – mehr möchte sie nicht verraten.

Kunst aus einer Krise

Umso wichtiger seien ihr Freundschaften. Den 37-jährigen Bassem Ainu lernte sie über Instagram kennen. Er ist ebenfalls ein kreativer Kopf, arbeitet in der digitalen Werbebranche. Sie trafen sich, motivierten sich gegenseitig, tauschten sich über Kunst aus und freundeten sich an. Dann verband sie eine besondere Geschichte: Ainu lebte in einem neuen Gebäude. Der Erbauer, so erzählt es Ainu, war ein experimentierfreudiger Künstler. „Er spielte mit dem Fundament und hat ein bisschen beim Bau und der Konstruktion geschummelt.“

Als das Haus von Bassem Ainu aufgrund von Baufehlern einstürzte, fing Ameen den Moment graphisch ein.

So kam es, dass die Wände nach zwei Jahren Risse bekamen, im dritten Jahr sackte dann die Decke ab. „Das Haus ist eingestürzt und da saß ich nun, auf den Trümmern meines Zuhauses und rauchte eine Zigarette.“ Ameen traf Ainu zu diesem Zeitpunkt und fing die Szene in einer Illustration ein. Er sagt rückblickend: „Sie entdeckte etwas Interessantes in der Geschichte, und sie mochte meine Reaktion darauf… dass ich den Vorfall auf die leichte Schulter nahm und ihn in einen dunklen Witz verwandelte.“

Ameen sei in der Lage gewesen, seine Krise zu übersetzen und sie auf ihre eigene Weise darzustellen: „Verträumt, mit einer Farbpalette, die die gemischten Gefühle widerspiegeln, die ich durchlebte. Sie fügte Sterne im Hintergrund hinzu, das gab der Geschichte etwas Surreales, Fiktionales. Und irgendwie wurde mein zerstörtes Haus auf einmal optimistisch, die Situation strahlte Hoffnung auf eine bessere Zukunft aus und zeigte eine Gelegenheit, von vorne anzufangen. Sie hat etwas Künstlerisches in meiner Misere gefunden.“

Ainu mag an Ameen, dass sie Konversationen und Erlebnisse auf ihre Art interpretiere: „Für mich ist Lamiaa wie ein organisiertes Durcheinander: Sie sucht Inspiration von allem, mit dem sie in Kontakt ist. Sie findet etwas Faszinierendes in Sätzen, Liedern oder Ereignissen und macht sie zur Kunst.“

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Von Julia Neumann, Beirut

Julia Neumann berichtet als freie Korrespondentin aus dem Libanon. Sie beschäftigt sich mit den Kulturen und Gesellschaften Westasiens und Nordafrikas und recherchiert vor allem zu Genderthemen, Migration und Fragen der sozialen Gerechtigkeit. Sie hat Journalistik in Dortmund, Internationale Politik in Ifrane (Marokko), Soziologie und Geschichte des Vorderen Orients in Erfurt und Beirut studiert. Mehr unter: www.neumannjulia.de.

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Sabrina ProskeMünchen
Saado Ali* ist eine junge Mutter aus Nordsomalia. Sie flieht hochschwanger mit ihrem kleinen Sohn Yusuf vom Krieg. Zwischen provisorischen Zelten und Planen setzen plötzlich ihre Wehen ein. Mit uns spricht sie erstmals über ihre Erfahrungen als Schwangere in einem Kriegsgebiet.

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