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Frauen in der Medizin
Chirurginnen sichtbar machen

1. Dezember 2021 | Von Eva Tempelmann
Sibel Şen, Silke Mertmann und Kollegin im OP-Saal (von links). Foto: Sibel Şen

Das medizinische Handwerk war lange Zeit Männersache. Heute machen Frauen zwei Drittel der Medizinstudierenden in Deutschland aus. In Führungspositionen sind sie mit zehn Prozent aber immer noch stark unterrepräsentiert. Auch in der Chirurgie stehen meist Männer am OP-Tisch. Der Verein „Chirurginnen e.V.“ will das ändern.

Von Eva Tempelmann, Münster

„Wann kommt denn der Oberarzt?“ Diese Frage hört Sibel Şen in ihrem Berufsalltag oft. Die Assistenzärztin arbeitet im Klinikum Schwarzwald-Baar in Villingen-Schwenningen in der Chirurgie und liebt ihren Beruf. Immer wieder wird sie im Klinikalltag jedoch für eine Krankenschwester gehalten. „Viele Patienten trauen mir nicht zu, dass ich als junge Frau chirurgisch arbeite“, sagt die 34-Jährige. „Die machen dann große Augen, wenn ich sage, dass ich ihnen eben die Gallenblase entfernt habe.“

Kaum Frauen in der Chirurgie

Die Chirurgie ist nach wie vor von Männern dominiert. Der Anteil von Frauen liegt hier bei nur 18 Prozent. Das Fach gilt als zeitintensiv, herausfordernd und familienunfreundlich. „Teilzeit ist in der Chirurgie fast ein No-Go“, sagt Şen. Wer beruflich erfolgreich sein und Familie haben wolle, stoße auf viele Hürden. Die lange Ausbildungszeit, klassische Rollenverteilungen in der Kinderbetreuung, das Beschäftigungsverbot für schwangere Ärztinnen – die Gründe sind vielfältig.

 

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Auch in leitenden Positionen begegnet man Frauen nur selten: Laut der Bundesärztekammer sind nur zehn Prozent der Mediziner*innen auf Führungsebene in der Medizin weiblich. In der Chirurgie liegt der Anteil bei gerade einmal fünf Prozent. Dabei sind rund 120 Jahre nach ihrer Zulassung zum Medizinstudium mittlerweile mehr als zwei Drittel der Medizinstudierenden in Deutschland Frauen. Die meisten spezialisieren sich in Innerer Medizin, Anästhesie und Frauenheilkunde.

Sibel Şen hat ihren Platz in der Chirurgie gefunden.

Plattform für Austausch und Vernetzung

Um dies zu ändern, haben engagierte Ärztinnen im Januar 2021 den Verein „Die Chirurginnen“ gegründet. Auslöser war eine Mitteilung des Berufsverbandes der Deutschen Chirurgen Ende 2020, die ein recht positives Bild von der Chancengleichheit in ihrem Fachbereich zeichnete. „Da gingen bei uns die Alarmglocken los“, erinnert sich Kristina Götzky, Oberärztin aus Hannover, an die Reaktionen im Kolleginnenkreis. Aus einem eher losen Netzwerk von Chirurginnen, das sich über die Plattformen Facebook und Xing ausgetauscht hatte, ist der Verein innerhalb weniger Monate auf mehr als 700 Mitglieder angewachsen, Tendenz steigend.

Das Ziel: Der Verein will Ärztinnen eine Plattform für Erfahrungs- und Wissensaustausch bieten und ein Netzwerk von und für Frauen in der Chirurgie sein. „Frauen brauchen umfassendere Unterstützung, wenn sie in einer Arbeitswelt erfolgreich sein wollen, die nach wie vor von patriarchalen Strukturen geprägt ist. Das zeigt sich im Umgangston, in den Arbeitszeiten, im Führungsstil“, heißt es auf der Webseite des Vereins. Frauen werde weniger zugetraut, gleichzeitig trauten sie sich selbst weniger zu.

„Darum brauchen wir Rollenvorbilder“, sagt Şen im Gespräch mit DEINE KORRESPONDENTIN. Bei ihrer ersten Stelle musste die junge Ärztin noch darum kämpfen, auch im Operationssaal arbeiten zu können und nicht nur Visiten zu machen. „Ich bin Chirurgin, weil ich gerne handwerklich arbeite,“ sagt sie, „ich mag das Hämmern und Meißeln im OP-Saal, das Arbeiten mit dem Skalpell und die direkten Ergebnisse.“

Vorbilder schaffen

Dennoch stieß sie in ihrer Ausbildung immer wieder auf Widerstände und Skepsis: Patient*innen und Vorgesetzte trauten der jungen Frau schlicht nicht zu, dass sie so professionell arbeiten könne wie ihre männlichen Kollegen. Ohnehin habe sie als Mensch mit Migrationsgeschichte ständig das Gefühl, noch freundlicher und kompetenter auftreten zu müssen als andere, sagt Şen. „Sonst heißt es wieder: Die Türkin kann es nicht.“ Ihre damalige Kollegin gab der angehenden Chirurgin Tipps, wie sie ihre Wünsche in der Klinik durchsetzen konnte: hartnäckig bleiben, sich zur Not auf andere Stationen versetzen lassen. Heute findet Şen über den Verein konkrete Unterstützung im Berufsalltag.

Wir sind viele: Die Chirurginnen auf der Webseite chirurginnen.com.

„Kleines Beispiel: Wenn ich Nachtdienst habe und nicht weiß, was bei einem bestimmten Patienten zu tun ist, kann ich einfach in den Chat der Nachtdienstgruppe schreiben und bekomme sofort Rückmeldung.“ So lösten sich Zweifel und Überforderung, die mit dem anspruchsvollen Job einhergingen, schnell auf. Şens jetzige Vorgesetzte ist Beisitzerin im Verein der Chirurginnen – es sei ihr größtes berufliches Vorbild.

Von Erfahrungen lernen

Weil nicht alle jungen Ärztinnen Rollenmodelle in ihrem direkten Arbeitsumfeld haben, bietet der Verein ein Mentoringprogramm an, bei dem diese mit erfahrenen Medizinerinnen zusammengebracht werden. Das Programm läuft zwei Jahre, Ziel ist ein langfristiger und persönlicher Erfahrungsaustausch. Außerdem unterstützt die Initiative bei Hospitationen außerhalb der eigenen Klinik und organisiert monatliche Fortbildungen, die medizinisches Wissen und chirurgisches Handwerk aus den unterschiedlichen Fachbereichen vermitteln.

Neben wissenschaftlichen Themen werden auch Kurse zu Kommunikation, Stressbewältigung oder Vereinbarkeit von Beruf und Familie angeboten. In den Arbeitsgruppen ist der Austausch auf Augenhöhe. Die Kommunikation läuft über den Messengerdienst „siilo“, über den – aufgrund seiner hohen Datenschutzstandards – auch Fallbesprechungen organisiert und Infos des Vereins abgerufen werden können.

Kolleginnen beim Viszeralmedizin-Kongress in Leipzig im September 2021 (Foto: Kristina Götzky).

„Der Austausch ist sehr persönlich, von der Chefärztin bis zur Studentin“, beschreibt Nele Rasmussen die Formate. Die Oberärztin für Unfallchirurgie und Orthopädie aus Hamburg ist Ansprechperson für jüngere Ärztinnen in ihrem Fachbereich und sieht den Austausch als Kernstück gegenseitigen Empowerments. In ihrer eigenen Ausbildung habe sie es angespornt, sich als Frau unter vielen Männern beweisen zu müssen.

Im Nachhinein wäre sie für mehr Unterstützung dankbar gewesen. Rasmussen hofft, dass für den Zugang in die Chirurgie das Geschlecht künftig keine Rolle mehr spielt. „Ich will einfach nur Gleichberechtigung“, sagt die Chirurgin, die wie ihre Kollegin Şen ihr Berufsziel früh vor Augen hatte. „Letzten Endes sollte es keine Rolle spielen, wer operiert – Hauptsache, den Patienten geht es besser.“

Vereinbarkeit von Beruf und Familie

Um das zu erreichen, müssen sich einige Arbeitstrukturen in der Chirurgie deutlich ändern, findet Kristina Götzky. Es brauche Arbeitsbedingungen, die für Männer und Frauen gleichermaßen passen. „Wir sollten nicht in der Klinik leben müssen, um erfolgreich arbeiten zu können“, bringt sie ihre Forderung auf den Punkt. Nach der Geburt ihres ersten Kindes schlug sie ihrem damaligen Chef ein Jobsharing-Modell vor, bei dem sich zwei Personen eine Stelle zu je 50 Prozent teilen. Ihr Vorgesetzter war zu skeptisch, gestand Götzky bei ihrer Vollzeitstelle aber immerhin einen Tag Homeoffice zu.

Das Handwerksmaterial der Chirurginnen (Foto: Sibel Şen).

„In der Chirurgie arbeiten wir ja nicht nur am OP-Tisch“, erklärt Götzky. Der administrative Teil – sogenannte Arztbriefe, OP-Berichte, Qualitätsmanagement – mache mindestens 20 Prozent der Arbeit aus. „Dennoch zählt in der Chirurgie nach wie vor die absolute Präsenz.“ Mittlerweile hat die dreifache Mutter ein 75 Prozent-Modell mit Homeoffice-Anteil gefunden, das für beide Seiten zufriedenstellend ist. „Wir brauchen unbedingt mehr Offenheit für verschiedene Arbeitsmodelle“, findet Götzky.

Sichtbar werden, auch mit OP-Maske: Kristina Götzky (Mitte) und Kolleginnen.

Das zeigt auch das Nachwuchsproblem in den Kliniken: lange Arbeitszeiten im Schichtsystem, hoher Arbeitsdruck und mäßige Löhne sind für angehende Mediziner*innen zunehmend unattraktiv. Der Verein „Die Chirurginnen“ ist überzeugt: Gemeinsam geht es einfach besser. Ihr Slogan weist auch darauf hin, dass die Medizin im Allgemeinen und die Chirurgie im Speziellen davon profitieren würden, wenn Frauen und Männer gleiche Berufs- und Aufstiegschancen hätten. „Männer und Frauen leiten anders, entscheiden anders“, sagt Götzky und fügt hinzu, das sei „eine große Bereicherung“.

Sichtbar werden

Auch die Forschung würde sich ändern, wenn Frauen mehr zu sagen hätten. Erst vor zwanzig Jahren fiel einer breiteren Öffentlichkeit auf, dass Frauen auf viele Therapien und Medikamente anders reagieren als Männer. Grund dafür ist der weibliche Zyklus, der Wirkungen verändern kann. Medikamente werden daher meist an Männern getestet ­– mit entsprechendem Nachteil für Frauen. Die Pandemie hat das Thema Gendermedizin mehr in den Blickpunkt gerückt.

Noch sind die Bilder in den Köpfen hartnäckig. „Kein Wunder, wenn im Fernsehen lauter Arztserien laufen, die Männer in den Mittelpunkt stellen“, ärgert sich Sibel Şen. Vom „Bergdoktor“ über „Grey’s Anatomy“ – immer wieder gehe es um Männer in leitenden Positionen, die Frauen seien eher Beiwerk. „Das ist nicht mehr zeitgemäß“, findet sie.

Die Chirurginnen sind mit ihrem Verein auf einem guten Weg, ihre Expertise in einem der anspruchsvollsten Fächer der Medizin in die Öffentlichkeit zu bringen. Kürzlich trafen sich auf einem Kongress mehrere Kolleginnen und trugen dabei – pandemiebedingt – OP-Masken in knalligem Rot. Als Gruppe seien sie damit aufgefallen, freut sich Kristina Götzky, die dabei war. „Das ist ein erster Schritt: sichtbar werden!“

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Von Eva Tempelmann, Münster / Lima

Eva Tempelmann hat 2014 bis 2020 mit ihrer Familie in Peru gelebt und dort als freie Journalistin, Übersetzerin und Lektorin gearbeitet. In ihren Reportagen, Interviews und Analysen berichtet sie über Umweltkonflikte in Peru, Menschenrechte und soziale Bewegungen. Sie ist Co-Autorin des Reiseführers Peru & Westbolivien (Stefan Loose, 2018) und Peru & Bolivien (Marco Polo, 2020). Mehr unter: http://www.evatempelmann.com.

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Helen HeckerPalermo
Neun von zehn Frauen in Deutschland, die in der Schwangerschaft die Diagnose Trisomie 21 erhalten, entscheiden sich gegen ihr Kind – so schätzen es zumindest Expert*innen. Belastbare Zahlen gibt es nicht. Unsere Korrespondentin ist selbst betroffen. Sie berichtet, wie sie damit umging und warum sie mehr Aufklärung in der Pränataldiagnostik fordert. 

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