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Frauen in Bewegung
Über Zuwanderungsgeschichten und fehlende Sichtbarkeit

14. April 2022 | Von Giorgia Grimaldi
Das Projekt „The Walk“ organisierte mit einer 3,5 Meter großen Puppe ein reisendes Kunst-Festival mit dem Ziel, geflüchtete Kinder zu unterstützen. Foto: Bevan Roos

Oft wird Migration als männliches Phänomen abgebildet. Männer, die hohe Zäune hochklettern, Männer, die in überfüllten Booten sitzen, Männer, die als sogenannte Gastarbeiter ihr Glück versuchen. Frauen werden vergessen oder absichtlich ausgespart. Dabei haben Studien ergeben: Über die Hälfte der Migrant*innen in Europa ist weiblich.

Von Giorgia Grimaldi, Marseille

Die kleine Amal will ein besseres Leben, wieder zur Schule gehen und – ihre Mutter finden. Das neunjährige Mädchen flieht also von der türkisch-syrischen Grenze. Ihr Ziel: Manchester in Großbritannien. Dabei legt sie von Juli bis November 2021 insgesamt 8.000 Kilometer zurück, mehr als 65 Etappen in neun Ländern.

Amal – „Hoffnung“ auf Arabisch – ist zwar kein reales junges Mädchen, sondern eine 3,5 Meter große Puppe. Aber Mädchen wie Amal gibt es viele. Das Projekt „The Walk“ organisierte mit dieser Aktion ein reisendes Kunst-Festival mit dem Ziel, geflüchtete Kinder zu unterstützen. Während ihrer Reise hatte Amal eine Audienz beim Papst, wurde jubelnd in den Städten Marseille und Paris empfangen und war sogar zu Gast bei der Klimakonferenz in Glasgow.

In Deutschland besuchte Amal unter anderem auch Köln. Auf der Website des Projektes heißt es: „In einer Zeit beispielloser Krisen war ‘The Walk’ eine außergewöhnliche künstlerische Antwort: eine kulturelle Odyssee über Grenzen, Politik und Sprache hinweg, um eine neue Geschichte der gemeinsamen Menschlichkeit zu erzählen und eine dringende Botschaft auszusprechen: Vergesst uns nicht.“ Für 2022 ist bereits ein weiterer Marsch mit Amal geplant.

Die kleine “Amal” reiste durch ganz Europa (Foto oben: Nick Wall, London).

Immer mehr Frauen emigrieren

Mit dieser groß angelegten Kunstaktion zog Amal nicht nur viel Aufmerksamkeit auf geflüchtete Kinder und Minderjährige, sondern auch auf eine weitere Gruppe, die oft vergessen wird: Frauen mit Zuwanderungsgeschichte. Sie gehen in der Berichterstattung komplett unter. Laut der Bundeszentrale für politische Bildung liegt der Frauenanteil unter den Migrant*innen in Deutschland bei etwa einem Drittel. Trotzdem wird kaum über sie berichtet. Noch deutlicher wird das Missverhältnis zwischen der Anzahl der Frauen und fehlender medialer Präsenz in Frankreich: Hier ist über die Hälfte der Migrant*innen weiblich. 

Die Erhebung „Trajectoires et origines“ (TeO), die vom Nationalen Institut für demographische Studien veröffentlicht wurde, hat herausgefunden: Frauen machen 52 Prozent der Zuwanderer*innen Frankreichs aus. Im Jahr 1975 waren es bereits 44 Prozent. Doch entgegen der landläufigen Annahme beruht diese Entwicklung nicht nur auf der Familienzusammenführung. Frauen wandern zunehmend eigenständig aus, um zu arbeiten, zu studieren und ein neues, besseres Leben zu beginnen. Im Jahr 2019 kamen die meisten Frauen aus Russland, China, Brasilien und Algerien.


 

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„In Wirklichkeit hat sich in Frankreich in den letzten Jahrzehnten eine spektakuläre Annäherung der Migrationsprofile von Männern und Frauen entwickelt. Alleinstehende Neuankömmlinge sind immer häufiger Frauen, während die ‘Zusammengeführten’ immer häufiger Männer sind“, heißt es in dem Bericht. Demzufolge würden vor allem zwei Faktoren diese Dynamik erklären: das Streben der Frauen, durch Migration mehr Unabhängigkeit zu erlangen, und die Tatsache, dass Frauen manchmal besser qualifiziert seien als Männer, um bestimmte Jobs in Bereichen mit akutem Arbeitskräftemangel zu besetzen.

So arbeiten Frauen mit Zuwanderungsgeschichte oft als Service- oder Reinigungskräfte in Gastronomiebetrieben, Pflegerinnen oder Kosmetikerinnen. Doch Frankreich ist nicht das einzige Land mit dieser Entwicklung. Global betrachtet, nimmt die weibliche Migration seit mehreren Jahrzehnten stetig zu. Portugal verzeichnet mit 53 Prozent den europäischen Spitzenwert. Der Trend ist klar: Immer mehr Frauen, Singles oder Mütter, gehen allein ins Ausland.

Das Problem: Das geschieht nicht immer freiwillig. Wie der aktuelle Ukraine-Krieg zeigt, sind Frauen auch die ersten Opfer von politischen Konflikten und müssen ins Exil gehen. Laut Medienberichten sollen mehr als vier Millionen Menschen die Ukraine seit Kriegsbeginn verlassen haben. Etwa 30.000 sind seither in Frankreich angekommen. Nachdem viele der ukrainischen Männer nicht ausreisen dürfen und kämpfen, befinden sich darunter mehrheitlich Frauen und Kinder.

Eine portugiesische Einwandererfamilie 1964 in einem Elensviertel in der Nähe von Paris (Foto: Gérard Bloncourt, Nationalmuseum für Einwanderungsgeschichte und -kultur).

Und auch innerhalb der unfreiwilligen Migration gibt es Unterschiede. Carole Marek ist hauptberuflich Juristin und unterstützt in ihrer Freizeit den Verein „Ramina“ in Marseille. Eine Organisation, die sich um minderjährige Geflüchtete kümmert, ihnen eine Unterkunft und einen Platz in der Schule besorgt. Sie kommen meistens aus afrikanischen Ländern südlich der Sahara.

Carole Marek stellt fest: Unter den 650 Minderjährigen, die der Verein im Jahr 2021 betreut hat, gab es fast keine jungen Frauen. „Ich glaube, es ist einfach zu gefährlich für so junge Mädchen“, vermutet sie. Selbst die Männer würden von Gefangennahmen in libyschen Gefängnissen erzählen, wenn die Flucht über das Mittelmeer scheitert, sowie von Hunger und Gewalt. „Sie treten die Reise wahrscheinlich gar nicht erst an oder kommen dabei um“, so Marek.

Zugewanderte Frauen bleiben unsichtbar

Warum wird also kaum über weibliche Migration gesprochen? Die französische Journalistin Romane Frachon hat sich dieser Frage angenommen und sich zum Ziel gesetzt, Frauen mit Migrationsgeschichte zu Wort kommen zu lassen. In ihrem sechsteiligen Podcast „Femmes et frontières“, zu Deutsch „Frauen und Grenzen“, berichtet sie von ihren Recherchen.

Die Frauen, mit denen die Journalistin spricht, sind mit Booten, zu Fuß oder über heimlich organisierte Flugzeugtransporte nach Europa gekommen – manchmal mit Familie, Kindern oder ganz allein. Mütter, Studentinnen, Frauen mit oder ohne Beruf, Weiße, Schwarze, Frauen, die Rassismus, patriarchalen Strukturen oder untragbaren Lebenssituationen aufgrund von Kriegen, politischen Konflikten oder der Klimakrise entfliehen wollten.

„Afghanistan ist wirklich sehr gefährlich für Mädchen und Frauen. Wir können nicht einfach so rausgehen, einige der Männer da draußen sind einfach nur böse. Ich habe fünf Töchter und kann dort nicht mehr leben. In Afghanistan vergewaltigen Männer fünfjährige Mädchen. Je älter sie werden, desto gefährlicher wird es für sie“, sagt Zahar, eine Frau, die Franchon Ende vergangenen Jahres an der italienisch-französischen Grenze getroffen hat.

Mit je mehr Frauen die Journalistin spricht, desto besser versteht sie die Gründe für die fehlende Sichtbarkeit: Manchmal handelt es sich bei der „Migration“ um organisierten Menschenhandel und die Frauen werden abseits versteckt. Teilweise verstecken sich die Frauen – vor allem diejenigen, die mit Kindern reisen – aber auch selbst oder verkleiden sich als Männer, um sich zu schützen.

Afrikanische Frauen im Französischunterricht, 1965 in Paris (Foto: Janine Niépce, Nationalmuseum für Einwanderungsgeschichte und -kulturen).

In Gesprächen mit der Soziologin Elsa Tyszler, die Migration in Zusammenhang mit geschlechterspezifischen Unterschieden und Rassismus vor allem an der spanisch-marokkanischen Grenze untersucht hat, kommt Romane Frachon aber letztlich zu dem Schluss: Es geht um Politik.

Vor allem Schwarze Männer, die von Politiker*innen und Medien oft als „gefährliche Bestien“ inszeniert würden, würden ausländerfeindliche Migrationspolitik besonders gut rechtfertigen. Nicole Scheck, eine feministische Aktivistin und Sozialarbeiterin aus Nizza, die sich auf juristische Begleitung ausländischer Frauen spezialisiert hat, ergänzt: „Bilder von Frauen und Kindern stützen das Narrativ von Bedrohung und Terrorismus in Verbindung mit Migration nicht.“

Migration, Herzstück der rechten Politik

Obwohl es also in vielen europäischen Ländern genauso viele – wenn nicht mehr zugewanderte Frauen als Männer gibt – nutzt die rechte Politik das Narrativ des jungen, starken, gewaltbereiten Mannes, um Angst zu schüren. Dieses Schema findet sich auch im Vokabular wieder: Wörter wie „Flüchtlingswelle“, „Flüchtlingsstrom“ oder „Migrations-Tsunami“ sind klar negativ konnotiert. Im aktuellen Wahlkampf um das französische Präsidentschaftsamt wird dies besonders deutlich.

Der rechtsextreme Kandidat Éric Zemmour betont immer wieder, dass „die Migrationskrise“ und nicht die Klimakrise die größte Gefahr in den kommenden Jahren darstelle und stellt vor allem minderjährige Migranten unter Generalverdacht. In mehreren TV-Auftritten bezeichnete er sie als „Diebe, Vergewaltiger und Mörder“, die in Frankreich nichts zu suchen hätten.

Auch seine rechte Konkurrentin Marine Le Pen unterbreitet den französischen Bürger*innen in ihrem Wahlprogramm eine strikte Anti-Migrationspolitik, um – Zitat – „die Kontrolle über die Einwanderung zurückgewinnen und die französische Nationalität und die Identität Frankreichs zu schützen.“

Wahlplakat der Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen: Migration kontrollieren.

Emmanuel Macron, der sich mit seiner Partei „La République en Marche“, zu Deutsch „Die Republik in Bewegung“, als liberal-progressiver Kandidat präsentiert und die politische Spaltung in linke und rechte Lager überwinden will, ist noch immer der Favorit unter den Bewerber*innen. Er schlägt in seinem Programm eine „Neugestaltung des Asylrechts“ vor. Wie diese genau aussehen soll, ist nicht klar.

Bisher sprach der noch amtierende Präsident davon, den Erhalt von Aufenthaltsgenehmigungen für vier oder mehr Jahre an die Bedingung zu knüpfen, dass Ausländer*innen eine Französischprüfung ablegen und sich um eine berufliche Eingliederung bemühen müssen. Doch auch Macron schlägt die Ausweisung von Ausländer*innen vor, die die „öffentliche Ordnung stören“ und spricht über mögliche Sanktionen für Länder, die ihre Staatsbürger*innen nicht wieder aufnehmen.

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Von Giorgia Grimaldi, Berlin / Marseille

Giorgia Grimaldi berichtete einige Jahre aus Marseille über Frankreichs Politik und Gesellschaft. Heute arbeitet sie hauptberuflich als Nachrichtenredakteurin in Berlin. Am liebsten recherchiert sie dabei zu Migration und News aus dem Ausland. Weiterhin hat sie Frankreichs Entwicklungen im Blick und kehrt so oft es geht dorthin zurück.

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