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Wenn das Schlimmste noch nicht vorbei ist
Interview mit der ukrainischen Autorin Anna Bilenka

30. März 2022 | Von Sarah Tekath
Luftangriffe über der ukrainischen Stadt Tschernihiw nördlich von Kiew. Fotos: Anna Bilenka (Instagram)

Die Autorin Anna Bilenka ist derzeit in vielen niederländischen und sogar internationalen Medien zu sehen. Allerdings nicht, weil sie vor Kurzem ihr erstes Buch herausgebracht hat. Stattdessen spricht sie über ihr Heimatland, die Ukraine, das sich gerade im Krieg befindet. Ihre Familie ist immer noch dort. Niederlande-Korrespondentin Sarah Tekath hat sie interviewt.

Anna Bilenka, Sie haben kürzlich Ihr erstes Buch veröffentlicht. Worum geht es darin?

Für mein Buch habe ich vier Jahre lang 200 Menschen aus der ganzen Welt interviewt. Daraus habe ich drei Geschichten ausgewählt, die mein Herz am meisten berührt haben. Diese Personen sind die Protagonisten meiner Geschichten geworden. Lily ist eine niederländische Studentin, Robert ein Sohn ukrainischer Flüchtlinge und der Syrer Irvan. Für die Recherche habe ich mit syrischen Freunden gesprochen über die Lage in Aleppo und den Krieg. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich noch nicht ahnen, dass wenige Jahre später meine Freunde, die den Syrien-Krieg erlebt haben, mich fragen würden, wie es meiner Familie geht. Denn sie wissen, was wir gerade durchmachen.

Sie sind vergangenes Jahr für die Promo-Tour Ihres Buches in die Ukraine gereist. Wie hat sich Ihr Land verändert, seitdem Sie von dort weggezogen sind?

In den vergangenen sieben Jahren, in denen ich in den Niederlanden lebe, scheint das Land erwachsen geworden zu sein. Die Menschen sind unabhängiger geworden und haben ihren freien Willen gefunden. In meinem persönlichen Netzwerk gibt es viele, die als Entrepreneure arbeiten, eigene Projekte starten und helfen, das Land voranzubringen. Von Bildungswebseiten für Kinder über Computerprogramme bis hin zu Mode. Ich bin wirklich stolz, Ukrainerin zu sein und jedes Mal, wenn ich zu Hause bin – und ich nenne die Ukraine immer noch mein Zuhause, auch wenn ich in den Niederlanden lebe – erlebe ich so viel Unterstützung von allen Seiten. Es ist also völlig egal, wo man lebt. Man bleibt immer Ukrainer.

Anna Bilenka bei der Vorstellung ihres Buches in Odessa, Ukraine (Foto: Anna Bilenka).

Am 24. Februar hat der russische Präsident Wladimir Putin Ihrem Land den Krieg erklärt und seinen Truppen befohlen, einzumarschieren. Erinnern Sie sich an den Moment, als Sie davon erfahren haben?

Ich erinnere mich, dass ich in dieser Mittwochnacht (23. Februar) schlecht geschlafen habe. Ich bin immer wieder aufgewacht, konnte nicht wieder einschlafen und es war so, als wäre irgendetwas ganz falsch. Am Morgen, als mein Mann aufgestanden ist, kam er wenige Sekunden später wieder zurück ins Schlafzimmer und sagte „Anna, es hat begonnen!“ Ich habe keine weiteren Erklärungen gebraucht.

Sind Sie in Kontakt mit ihrer Familie? Wie geht es ihnen?

Meine Heimatstadt Chernihiv nördlich von Kyiv ist seit Tag eins beinahe komplett abgeschnitten vom Rest des Landes. Es ist für die Menschen so gut wie unmöglich, von dort zu flüchten. Jeden Abend denke ich, dass das Schlimmste jetzt vorbei ist. Aber dann kommt der nächste Tag und es wird schlimmer. Das wird mir bewusst, wenn ich die Nachrichten sehe. Während der letzten Tage ist es mir nicht gelungen, mit meinem Vater zu sprechen, weil die Verbindung nicht zustande kommt. Es gibt keinen Strom und auch kein Wasser und keine Heizung. Trotzdem war mein Vater, als ich zuletzt mit ihm gesprochen habe, sehr optimistisch. Er wollte mir nichts von den schlimmen Dingen erzählen, die in unserer Stadt passieren. Aber ich sehe natürlich die Nachrichten und weiß, was passiert.

Ich weiß aktuell sicher, dass er am Leben ist, aber es ist sehr schwer, seine Stimme nicht hören zu können. Meine gesamte Familie ist gerade getrennt. Ich muss also alle einzeln mehrmals täglich anrufen, um zu schauen, ob es ihnen gut geht. Aber wie kann es ihnen gut gehen, wenn meine Schwester und meine Tante sich im Keller verstecken müssen? Mein Vater schläft in einem Gebäude, in dessen Außenwand bei einem Angriff am zweiten Tag des Krieges ein großes Loch gerissen wurde.

Meine Mutter ist isoliert in einem kleinen Vorort, wo sie sich um ihren sehr kranken Vater kümmert. Mein Bruder musste mit einem Auto, das ihm ein Freund gegeben hat, unter großen Gefahren aus Kiew in die Westukraine flüchten. Und hier erzähle ich nur die Geschichten meiner engsten Verwandten, aber auch meine Freunde und entfernten Familienmitglieder schweben in großer Gefahr – und zwar zu jeder Sekunde.

Inwiefern hat sich Ihr Leben seit dem Kriegsbeginn verändert?

Die Menschen fragen mich, wie es mir geht. Ich bitte sie, das nicht zu tun. Denn sonst muss ich innehalten und mich wirklich fragen, wie es mir geht und das kann ich einfach nicht. Das ist zu schwer. Ich bin schon davor eine Weile in Therapie gewesen und mein Arzt hat mir Medikamente verschrieben wegen starker Stimmungsschwankungen und weil ich oft antriebslos war. Aber seit Tag eins des Krieges habe ich diese Probleme nicht mehr. Nichts ist jetzt wichtiger als das Leben meiner Familie. An Tag eins war ich noch in Schockstarre und an Tag zwei bin ich in den Überlebensmodus übergegangen. Ich erledige eine Million Dinge an einem einzigen Tag, um mich beschäftigt zu halten, damit ich nicht darüber nachdenken muss, wie es mir gerade wirklich geht.

Es ist einfach mehr, als ein Mensch ertragen kann.

Ich habe auch alle meine Projekte abgesagt. Ich habe keine Arbeit mehr. Ich bin nur noch darauf fokussiert, mein Land zu unterstützen. Wir sammeln Spenden in unserem Haus, Menschen übernachten bei uns, ich koordiniere Freiwillige und vernetze Menschen. Einige Geflüchtete haben meine Telefonnummer gefunden und rufen mich an, weil sie in die Niederlande kommen wollen. Mein Mann und ich waren in Krakow, um zu helfen, weil es eine gute Bahnverbindung von Lwiw dorthin gibt und deswegen viele Geflüchtete ankommen. Ich spreche mit internationalen Medien und ich war zu Gast beim niederländischen Ministerpräsident Mark Rutte und bei der Amsterdamer Bürgermeisterin Femke Halsema. Es geht nicht mehr um mein eigenes Leben. Bis dieser Albtraum vorbei ist, werde ich alles tun, was ich kann. Erst danach überlege ich mir, wie es weitergehen soll.

Wie sehen gerade Ihre Tage aus?

Ich wache gegen sieben Uhr auf. Ich schaue sofort die Nachrichten an und brauche ein paar Minuten, um all meine Kraft zusammenzunehmen, um meine Familie anzurufen. Wenn ich sie nicht erreichen kann, macht mir das den ganzen Tag Sorgen. Manchmal beantworte ich auch schon direkt im Bett Nachrichten, teile Informationen, checke den Lieferstatus von Spenden oder vernetze Menschen. Dann esse ich in aller Eile mein Frühstück und arbeite am Computer, bis mir alles wehtut. Das Mittagessen lasse ich meist ausfallen. Dafür habe ich keine Zeit und Hunger habe ich sowieso schon lange keinen mehr. Wenn ich auf die Uhr schaue, ist es meist schon kurz vor Mitternacht.

Ich verlasse oft meine Wohnung tagelang nicht. Ich gehe nicht mehr zum Yoga und sehe meine Freunde nicht mehr. Von vielen Menschen, die ich für meine Freunde gehalten habe, habe ich seit Kriegsbeginn nichts gehört und gleichzeitig unterstützen mich Menschen, die ich gar nicht kenne. Vor Kurzem hat mir unsere Nachbarin, mit der ich noch nie gesprochen habe, einen Topf Suppe gebracht.

Wie war die Lage in Krakow?

Wir haben den ganzen Tag am Bahnhof gearbeitet und haben mit den Geflüchteten gesprochen, ob sie einen Ort brauchen, wo sie hingehen können oder ob sie Hilfe brauchen. Viele von ihnen waren so sehr im Schockzustand, dass sie sich nicht mehr an ihre eigenen Namen erinnern konnten. Andere sind in Tränen ausgebrochen oder haben mich angeschrien. Es waren einfach so viele Emotionen, pausenlos. Am Abend habe ich diese Frau getroffen, Anastasiya. Sie stand mitten auf dem Bahnhof, in Tränen aufgelöst, mit ihrer kleinen Tochter. Um sie herum waren Helfer, Polizisten und alle rannten hin und her. Es war ein totales Chaos. Ich habe mich zu dem Mädchen gehockt und sie hat mir ihren Namen gesagt und ihr Alter. Sie hat mir von ihrem Lieblingsspielzeug erzählt.

Weil ich wusste, dass sie in die Niederlande fahren würden, habe ich die Kleine gefragt: „Hast du Lust, jetzt mit einem ganz großen Bus zu fahren? Das dauert jetzt ganz lange. Aber dann kommt ihr in eine Stadt, wo es ganz viel Wasser gibt und alle Leute fahren Fahrrad. Hast du auch Lust, Fahrrad zu fahren?“ Da hat sie mich angelächelt und hat ihre Hand in meine geschoben. Ich konnte fühlen, wie dreckig und verschwitzt sie war, aber auch so voller Kraft und Leben.

Ein kleiner Junge hat mir erzählt: „Da waren böse Flugzeuge, die haben ganz viel Lärm gemacht und Menschen umgebracht. Ich habe Angst vor den Soldaten, das sind schlimme Menschen. Wir mussten uns verstecken und dann sind wir gerannt, ganz, ganz schnell und jetzt sind wir hier.“ Ich habe wirklich mit den Tränen gekämpft, aber ich musste stark bleiben, weil mein Schmerz gar nichts ist um Vergleich mit dem Schmerz, den diese Menschen erleiden müssen.

Was möchtest du dem russischen Volk sagen?

Ihr müsst kämpfen. Ihr habt schon so viel Zeit verstreichen lassen, wir können nicht noch mehr Zeit verlieren. Es ist keine Zeit mehr, um einfach sitzenzubleiben und zuzuschauen. Ihr müsst etwas tun, sonst wird es nicht aufhören. Ich kenne viele Russen, die bereits aufgestanden sind und sich wehren. Aber ich kenne auch viele, die stumm bleiben. Und für mich bedeutet stillschweigen, Böses zu unterstützen. Ich habe keine Zeit und keine Energie mehr, um anders zu denken als schwarz und weiß. Wer nicht dagegen ist, ist dafür.

Und dem ukrainischen Volk?

Wir sind stark! Wir kämpfen für unsere Freiheit, unser Land, für unsere Zukunft, für unsere Heimat. Wir haben so viele Gründe, um zu kämpfen. Die russischen Soldaten haben nur einen einzigen – das Ego von einer einzelnen Person. Alle Ukrainer kämpfen gerade, indem sie das tun, was sie am Besten können. Der eine sorgt für die Kinder, der andere backt Brot, evakuiert Menschen oder schreibt Artikel. Meine Mutter ist sehr religiös und ist ganz allein in dem kleinen Dorf. Sie betet jeden Tag zwölf Stunden. Ich glaube, uns war bisher nicht bewusst, wie stark wir wirklich sind. Aber jetzt lernen wir unsere wahre Stärke, unsere Hilfsbereitschaft und unser Mitgefühl kennen.

Anna Bilenka, vielen Dank für das Gespräch.

Anna Bilenka bei ihrer Buchvorstellung in Odessa
Foto: Anna Bilenka.
 

Weitere Infos:

Die 31-jährige Anna Bilenka stammt aus der ukrainischen Stadt Chernihiv und lebt seit 2014 in den Niederlanden. Sie wohnt in Haarlem und arbeitet als Marketing Content Managerin und Autorin. Ihr Buch Летіла в небі чорна птаха, auf Englisch „Blackbird of passage wings its flight“ und auf Deutsch „Ein schwarzer Vogel flog am Himmel“, ist im Frühling 2021 erschienen und ist aktuell nur auf Ukrainisch erhältlich.

 

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Von Sarah Tekath, Amsterdam

Sarah Tekath kommt ursprünglich aus dem Ruhrgebiet, hat zwei Jahre in Prag gelebt und schrieb dort als Freie für die Prager Zeitung und das Landesecho. Im Jahr 2014 zog sie nach Amsterdam, wo sie unter anderem für das journalistische Start-up Blendle arbeitete. Seit 2016 ist sie selbständige Journalistin und kümmert sich, gemeinsam mit Helen Hecker, um unseren Instagram-Kanal.

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Eva TempelmannMünster / Lima
Bis zu 40 Prozent der Frauen machen bei der Geburt ihrer Kinder gewaltvolle, teils traumatische Erfahrungen im Kreißsaal. Lena Högemann wirft in ihrem Buch „So wollte ich mein Kind nicht zur Welt bringen“ einen feministischen Blick auf die Geburtshilfe und zeigt Wege auf für mehr Selbstbestimmung.

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