Für ihre Ausstellung „ORIGIO“ hat die Fotografin Milena Schilling Menschen aus Konstanz ins kalte Wasser gebeten, um den Ursprung allen Lebens sichtbar zu machen. Im Interview spricht sie über künstlerische Präzision, natürliche Unberechenbarkeit und ihre Vision, eines Tages mit Walen zu tauchen.
Von Pauline Tillmann, Konstanz
Zusammenfassung:
Für ihre Ausstellung „ORIGIO“ fotografierte Milena Schilling über drei Jahre hinweg Menschen im Bodensee, inspiriert von barocken Gemälden – mit dem Ziel, den Ursprung allen Lebens im Wasser sichtbar zu machen. Die junge Fotografin setzt sich für Diversität, Verbundenheit und die Magie des Wassers ein – und träumt davon, ihr Projekt mit Walen im Südpazifik fortzusetzen.
Deine Ausstellung in der Leica Galerie trägt den Titel „ORIGIO“ und läuft vom 12. April bis zum 12. Juli 2025. Was hat es damit auf sich? Was bedeutet der Begriff?
ORIGIO kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „Ursprung des Lebens“. In einer alten Übersetzung habe ich sogar gefunden, dass es „Quelle des Lebens” bedeutet. Da wir Menschen die ersten neun Monate im Mutterleib im Wasser verbringen, ist das eigentlich unser Ursprung. Ich finde, dieser Titel repräsentiert mein Projekt daher perfekt.
Wie lange hast du an den Fotos gearbeitet?
Die allererste Idee zu dem Projekt hatte ich vor fünf Jahren. Drei Jahre lang habe ich fotografiert.

Wie würdest du deine Fotos Menschen beschreiben, die nicht in Konstanz leben und sie deshalb nicht sehen können? Was zeichnet sie besonders aus?
Meine Inspiration stammt von Malereien und Skulpturen aus der Renaissance und dem Barock, zum Beispiel von Peter Paul Rubens. Ich habe lange analysiert, warum mir diese Gemälde so gefallen, wie die Körper zueinander stehen, und habe versucht, meine eigenen Kompositionen unter Wasser zu kreieren und zu formen. Das heißt, jedes einzelne Bild ist komplett durchdacht und durchgeplant. Ich habe, wenn man so will, nichts dem Zufall überlassen.
Warum hat dir ausgerechnet Rubens so gefallen?
Mich hat berührt, wie er die Körper miteinander zeigt. Oft werden Körper ja schöner dargestellt, als sie sind. Sie werden an ein gewisses Schönheitsideal angepasst. Mir hat imponiert, dass Rubens unterschiedliche Körpergrößen und -formen abgebildet hat. Bei meinem Projekt habe ich von Anfang an gesagt, dass alle Menschen mitmachen dürfen. Denn am Ende geht es nicht um den einzelnen Körper, sondern um die Gesamtwirkung. Ich glaube, das ist der springende Punkt: Man vergisst die einzelnen Personen und ist – hoffentlich – beeindruckt von der Gesamtkomposition.

Hast du ein Lieblingsbild?
Nein, tatsächlich nicht. Ich weiß, wie viel Arbeit und Aufwand hinter jedem einzelnen Bild steckt: Konkret waren es etwa neun Stunden pro Bild. Wenn ich sie sehe, kommen sofort wieder die Gefühle hoch, wie wir an Land geprobt und anschließend mit dem Segelboot hinausgefahren sind. Ich verbinde mit jedem Bild zu viele Emotionen, als dass ich eines über das andere stellen könnte.
Und wie kann ich mir das konkret vorstellen? Bist du drei Jahre lang jeden Tag ins Wasser gestiegen und hast jeden Quadratzentimeter des Bodensees nach der perfekten Location erkundet?
Als ich das erste Mal einer Freundin davon erzählt habe, habe ich im April ein Foto unter Wasser gemacht. Und es hat so gut funktioniert! Dann wollte ich weiterfotografieren, aber plötzlich ging es nicht mehr. Also habe ich angefangen, den Bodensee besser zu verstehen, und dabei Folgendes festgestellt: Je wärmer der See ist, desto schlechter wird die Sicht. Das hing jedoch nicht nur mit der Wassertemperatur zusammen, sondern auch mit der Windrichtung, den Unterströmungen, dem letzten Regen, den gerade blühenden Algen etc. Ich bin sehr viel getaucht, um mir ein Bild davon zu machen, wo es Algen, Gras, Moos, Steine und Sand gibt. Ab Herbst habe ich dann wieder angefangen zu fotografieren.
Wenn ich das richtig verstanden habe, hattest du pro Bild nur einen Schuss? Ihr habt also vorher die Choreografie besprochen und seid dann unter Wasser gegangen. Dort hattet ihr keine Sauerstoffmasken. Das heißt, es kam auf die eine Sekunde an…
Genau, wir haben an Land alles geprobt, und ich glaube, deshalb hat es mit dem einen Schuss dann auch wirklich so funktioniert. Ich habe mein Skizzenbuch gezeigt und erklärt, wie ich mir das fertige Bild vorstelle. Dann haben wir geschaut, wo man sich berühren soll, wie viel Abstand nötig ist und so weiter. Aber der Boden ist ja nur zweidimensional, im Wasser kommt eben eine dritte Dimension dazu. Ich muss sagen, dass es eine Wahnsinnsleistung ist, bei zwölf Grad Wassertemperatur den Kopf unter Wasser zu tauchen und die Luft lange anzuhalten. Bei den meisten Bildern hat es beim ersten Anlauf geklappt, aber die Vorbereitung war enorm.
Macht es dich stolz, die Bilder jetzt so großformatig vor dir hängen zu sehen, nachdem du so lange daran gearbeitet hast?
Ganz ehrlich? Ich habe immer noch nicht realisiert, dass sie wirklich hängen. Wenn man so viele Jahre an einem Projekt gearbeitet hat, fotografiert hat und es wirklich niemandem gezeigt hat … Nicht einmal die Modelle haben die Bilder gesehen. Ich habe das im stillen Kämmerchen für mich gemacht, weil ich nicht wollte, dass mir jemand hineinredet. Dass die Bilder jetzt so viele Menschen sehen können und der Ansturm auf jede einzelne Führung so groß ist, damit habe ich wirklich nicht gerechnet. Es ist wie ein Film, der an einem vorbeirauscht. Bisher hatte ich noch nicht die Ruhe, das alles zu begreifen und zu realisieren, was gerade passiert.
Die Ausstellung hat dir sicherlich auch zu einer gewissen Bekanntheit verholfen, oder?
Das ist natürlich schwer messbar, aber ich hatte auch schon vorher internationale Ausstellungen. Meistens waren das Gruppenausstellungen. So eine große Einzelausstellung, die eine solche Resonanz hervorruft, ist auf jeden Fall etwas Besonderes. Ich fand es sehr rührend, als mich bei einer Führung eine Frau angesprochen hat, die aus der französischen Schweiz angereist war und acht Stunden im Zug gesessen hatte, nur um an meiner Führung teilzunehmen. Es kamen auch Menschen aus Trier, Hamburg, Köln und Frankfurt. Offenbar lösen diese Bilder also etwas in ihnen aus, sodass sie den weiten Weg auf sich nehmen. Das freut mich natürlich sehr.
Und wie geht es jetzt eigentlich weiter? Die Ausstellung läuft offiziell noch bis zum 12. Juli. Am 15. Juli findet ein Abschluss-Event statt. Was passiert danach?
Dann wird die Ausstellung erst einmal abgehängt. Einige Bilder sind bereits verkauft und ich freue mich, dass diese ein tolles neues Zuhause finden werden. Es macht einen natürlich auch stolz, wenn man weiß, dass es Menschen gibt, die sich die Bilder jeden Tag anschauen oder daran vorbeilaufen. Ich habe einige Anfragen von anderen Galerien und Ausstellungsorten erhalten. Ich hoffe, dass die Bilder weiterhin zu sehen sein werden, denn sie sind nicht dafür gemacht, in einem Lagerraum verstaut zu werden.

Arbeitest du schon an einem Folgeprojekt?
Einige Ideen habe ich schon… Ich habe ja bereits für „ORIGIO“ das Bodenseeschifferfahrtpatent gemacht und bin gerade dabei den Schein zu machen, damit ich dann auch auf dem Meer segeln kann. Es gibt keine artgerechtere Begegnung mit Säugetieren als im Meer mit einem Segelboot mit Meeresbiologen. Mit dem Segelboot ist man leise, da man keinen Motor hat, und stört die Tiere nicht. Ich träume also davon, das Projekt fortzuführen – am liebsten mit Buckelwalen. Die Tiere dürfen aber selbst entscheiden, ob sie mit uns im Wasser sein wollen. Wenn sie sich dafür entscheiden, ein paar Minuten mit uns im Wasser zu verbringen und ich davon Fotos machen kann, freue ich mich umso mehr, wenn sie das nicht möchten, muss ich das auch respektieren.
Das klingt herausfordernd, denn mit den Walen kann man keine Choreografie einüben. Vielleicht kann man Walgesänge üben, um mit ihnen zu kommunizieren.
Richtig, es wird viel dem Zufall überlassen sein. Aber ich kann natürlich planen, was ich mit den Menschen mache, die mich begleiten. Sie dürfen sich den Tieren nicht zu sehr nähern und sie auf gar keinen Fall anfassen. Aber man kann sich natürlich überlegen, ob sie zueinander oder voneinander wegschwimmen. Außerdem ist das Wasser deutlich wärmer als der Bodensee. Da kommen also viele neue Faktoren hinzu.
Noch einmal grundsätzlich gefragt: Was macht dir als Fotografin am meisten Spaß?
Das ist eine schwierige Frage. Ich arbeite auf jeden Fall am liebsten mit Menschen zusammen, ganz egal, worum es geht. Sobald Menschen dabei sind, ist es einfach viel schöner. Ich arbeite auch gerne konzeptionell. Am schönsten finde ich es, wenn ich zum Beispiel den Auftrag bekomme, Menschen zu porträtieren, und der Kunde mir viel Freiheit gibt. Zu viele Vorgaben empfinde ich manchmal als einengend. Dann produziert man vielleicht etwas, das man schon einmal gesehen hat, und hat gar nicht die Chance, über sich hinauszuwachsen und Neues auszuprobieren.

Du bist mit 28 Jahren noch relativ jung. Gab es eigentlich auch Momente, in denen du an deiner künstlerischen Stimme gezweifelt hast oder in denen es dir schwerfiel, dich als Frau zu behaupten, weil du nicht so breitbeinig auftrittst wie viele deiner männlichen Kollegen?
Meine Eltern sind nicht in kreativen Berufen tätig. Ich wusste schon relativ früh, etwa in der sechsten Klasse, dass ich Fotografin werden möchte. Ich habe alle Freunde und Menschen um mich herum immer mit der Kamera begleitet. In der zehnten Klasse habe ich deshalb angefangen, unseren alten Dachboden zu einem Fotostudio auszubauen, und mit 16 Jahren habe ich mein Gewerbe angemeldet. Meine Eltern dachten lange, das sei nur ein Hobby, und haben mir eher empfohlen, eine Lehre als Bankkauffrau oder Tourismuskauffrau zu machen. Ich habe stattdessen Kommunikationsdesign studiert und anschließend einen Master in Fotografie gemacht. Das heißt, der Antrieb kam immer aus mir selbst heraus. Es gab niemanden, der mich gepusht hätte.
Und das Frausein ist natürlich ein Riesenthema. Als Fotografin werde ich oft unterschätzt, vor allem, weil ich noch so jung bin. Ab und zu bekomme ich Jobabsagen und erfahre, dass der Auftrag an einen älteren männlichen Kollegen vergeben wurde. Es ist einfach tief in den Köpfen verankert, dass Männer anscheinend besser geeignet sind. Als ich einmal eine bekannte Persönlichkeit fotografieren sollte, wurde ich auch überhaupt nicht ernst genommen. Da muss man sich den Respekt wirklich hart erarbeiten – was ich mittlerweile gut gelernt habe.

Was treibt dich an, Milena? Was würdest du sagen?
Die Begeisterung für die Fotografie und die Faszination für Menschen. Ich finde Menschen und ihre Geschichten generell super spannend und interessant. Und ich finde, es ist auch ein tolles Privileg, mit meiner Kamera so nah an verschiedene Orte gehen und dabei sein zu dürfen: bei einer Velo-Safari, auf einem Bauernhof oder bei einer Schönheits-OP. Das ist eigentlich das Schönste: dass man Einblick in verschiedenste Leben bekommt.
Du warst in den vergangenen Jahren fast täglich im Bodensee. Hat sich dadurch dein Verhältnis zum See verändert?
Auf jeden Fall! Ich mochte den See davor schon sehr gern, aber durch dieses Projekt habe ich ihn noch viel mehr schätzen und lieben gelernt – mit all seinen Algen, Fischen, Kieselsteinen und Muscheln. Für mich gibt es keinen schöneren Ort, als im Wasser zu sein, und das Schöne ist: Wir haben den Bodensee direkt vor der Haustür. Ich glaube, das ist das größte Geschenk, das man haben kann.
Und du bist tatsächlich auch das ganze Jahr über im See? Den meisten ist es zwischen Oktober und April zu kalt, aber nachdem du abgehärtet bist, macht dir das wahrscheinlich nicht mehr viel aus, oder?
Ja, es ist tatsächlich genau so. Der See gibt mir einfach so viel. Wenn ich morgens, bevor ich den Laptop aufklappe oder an die Arbeit gehe, erst einmal ein paar Runden schwimmen gehe, ist mein Tag schon gerettet. Da kann mir eigentlich gar nichts Böses oder Blödes mehr passieren. Ich bin dann einfach glücklich – und ja, komme was wolle, der See macht alles wieder gut.

Und was würdest du dir wünschen, dass die Betrachtenden von ORIGIO mitnehmen?
Ich möchte den Leuten nicht vorschreiben, was sie zu empfinden haben. Ich finde es aber schön, wenn die Menschen auf mich zukommen und mir erzählen, was sie gefühlt haben oder wie es ihnen erging. Besonders im Gedächtnis geblieben ist mir folgende Begegnung: Am Abend der Vernissage kam spontan ein Mann zur Ausstellung und kam einige Stunden später mit Tränen in den Augen auf mich zu. Er sagte, er wolle ein Bild unbedingt kaufen, weil es ihn so gepackt habe. Auch jetzt bekomme ich wieder Gänsehaut, wenn ich daran denke, denn es ist einfach das Größte, wenn Menschen so etwas empfinden.
Und welche Botschaft möchtest du transportieren?
Wir Menschen verbringen die ersten neun Monate unseres Lebens im Wasser. Dort sind wir frei von sozialen Konstrukten und alle gleich. Das heißt, wir haben alle den gleichen Ursprung und sollten uns öfter mal daran zurückerinnern, wo wir eigentlich herkommen. Jeder Mensch ist es wert, gleich behandelt zu werden, denn wir bestehen alle aus derselben Materie und wollen alle dasselbe: Liebe, gesehen zu werden und ein respektvoller Umgang miteinander.
Du bist jetzt 28. Was soll nach dieser großen Einzelausstellung noch kommen? Gibt es Ziele, die du erreichen möchtest?
Ich glaube, jeder Mensch hat Träume und Wünsche. Mein größter Traum ist es, nach Tonga, einem Inselstaat im Südpazifik, der zu Polynesien gehört, zu segeln und dort mein Projekt mit den Walen fortzuführen. Das ist mein großer persönlicher Traum.

Mehr über die Fotografin:
Milena Schilling, geboren 1996, ist Fotografin und lebt in Konstanz am Bodensee – wo sie oft auch im Wasser arbeitet. Schon mit 14 Jahren begann sie, Menschen durch die Kamera zu erforschen, ihre erste Spiegelreflexkamera finanzierte sie aus dem Erbe ihrer Großmutter. Nach einem Bachelor in Konstanz und einem Master in Dortmund unterrichtet sie heute selbst Fotografie an der Hochschule Konstanz.
Schillings Stil verbindet präzise Konzepte mit künstlerischer Tiefe und bewegt sich zwischen Editorial-, Porträt- und Werbefotografie. Aufgewachsen auf einem Bauernhof, spielt auch die Natur eine zentrale Rolle in ihren Bildern. Sie ist Mitglied im BFF, dem Female Photoclub und Fotobus e.V. und engagiert sich ehrenamtlich als Jurorin bei Fotografie-Wettbewerben. Ihr Blick ist stets auf das Wesentliche gerichtet – den Menschen im Einklang mit seiner Umwelt.