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Endstation Shatila
Syrische Frauen zwischen Hoffen und Bangen

15. November 2017 | Von Mareike Enghusen
Fotos: Mareike Enghusen

Tausende syrische Flüchtlinge ziehen in palästinensische Flüchtlingscamps im Libanon – vor allem Frauen und Kinder. Sollten sie dort auf lange Sicht feststecken, droht ein Leben in Armut und Abhängigkeit.

Von Mareike Enghusen, Beirut 

Wenn Fatmeh Abd Al-Bari Besuch empfängt, nehmen ihre Gäste auf einer dünnen, braunen Matratze Platz. Es gibt keine Stühle und keine Sofas in diesem kleinen, quadratischen Raum, der Wohn- und Schlafzimmer zugleich ist. Es gibt nichts als vier unbezogene Matratzen, die den Boden fast zur Gänze bedecken.

Dieser Raum, dazu eine Küchenecke und ein kleines Bad: Das ist das Zuhause der 45-jährigen Fatmeh Abd Al-Bari, ihrer Tochter und ihren zwei Enkeln. Eine winzige Wohnung im zweiten Stock im Shatila-Flüchtlingscamp in Beirut. Ordnung muss sein, trotz allem: Die Schuhe werden vor der Tür ausgezogen. „Ahlan wa Sahlan”, willkommen, sagt Fatmeh, die im Türrahmen lehnt, eine schlanke Frau mit dunklen Locken und warmem Lächeln.

Vor fünf Jahren floh Fatmeh Abd Al-Bari mit ihren Kindern und Enkelkindern aus ihrer Heimatstadt Al-Hajar Al-Aswad nahe Damaskus in den Libanon. Ihr Mann war zu diesem Zeitpunkt schon verschollen; er habe in einer Regierungsbehörde gearbeitet, sagt Fatmeh, vermutlich hätten Regimegegner ihn auf dem Weg zur Arbeit verschleppt. Bis heute hat sie kein Lebenszeichen von ihm erhalten.

Fatmeh (links) mit ihrer 29-jährigen Tochter Hallah Abd Al-Bari.

Ihr einziger Sohn hat sich inzwischen nach Brasilien durchgeschlagen, ihre ältere Tochter im Libanon geheiratet. Nun lebt sie allein mit ihrer Tochter Hallah und deren zwei Kindern, der neunjährigen Tochter und dem sechsjährigen Sohn im Shatila-Camp – einem Labyrinth aus schmalen, feuchten Gassen und eng gebauten, graubraunen Unterkünften, oft mehrere Stockwerke hoch.

Das Shatila-Camp im Süden Beiruts wurde 1949 vom Roten Kreuz für Palästinenser errichtet, die während des israelischen Unabhängigkeitskriegs in den Libanon geflohen waren. Sein Name erlangte 1982 traurige Berühmtheit, als sich christliche Phalange-Milizen während des libanesischen Bürgerkriegs mit Israel verbündeten, das Camp stürmten und tausende Männer, Frauen und Kinder niedermetzelten.

Tausende Flüchtlinge aus Syrien

Dennoch hat sich die Zahl seiner Bewohner wegen hoher Geburtenraten seitdem vervielfacht. Laut UNRWA, der Unterorganisation der Vereinten Nationen, die für palästinensische Flüchtlinge und ihre Nachkommen zuständig ist und das Camp verwaltet, leben heute knapp 10.000 registrierte Flüchtlinge in Shatila. Die echte Zahl liegt vermutlich weit darüber.

Zum einen sind viele Flüchtlinge und ihre Nachkommen nicht registriert. Zum anderen sind in den vergangenen Jahren tausende syrische Flüchtlinge nach Shatila gezogen. Viele, wie Fatmeh Abd Al-Bari, sind Syrer palästinensischen Ursprungs, die Anspruch auf Leistungen der UNRWA haben. Doch auch andere Syrer kommen nach Shatila, wegen der vergleichsweise niedrigen Mieten und dem Zugang zu zahlreichen Hilfsorganisationen, die im Camp operieren.

Schon vor der Ankunft der Syrer war Shatila hoffnungslos überfüllt. Die lichtarmen Gassen sind oft nur einen Meter breit, Stromleitungen hängen in dicken Bündeln über der Straße, an vielen Stellen sickert dicht daneben Wasser aus der Wand. Pflanzen gibt es nicht, überhaupt nur wenig freie Flächen. Kinder spielen in den schmalen Straßen oder auf den Schwellen ihrer kleinen, dunklen Wohnungen.

Die Flüchtlingswelle aus Syrien hat die Lage noch verschärft. Die Nichtregierungsorganisation Beit Atfal Assumoud, die sich um Kinder in Shatila kümmert, schätzt, dass die Zahl der Camp-Bewohner seit Ausbruch des Syrienkriegs von 17.000 auf 23.000 angewachsen ist. Andere sprechen gar von bis zu 40.000 Menschen.

„Beit Atfal Assumoud“, eine palästinensische Nichtregierungsorganisation (NGO), die von diversen europäischen Staaten finanziert wird, unterhält ein Kinder- und Jugendzentrum im Camp. Das schmale, mehrstöckige Gebäude beherbergt mehrere Klassenräume, in denen Mädchen und Jungen unterschiedlicher Altersstufen singen, basteln, zeichnen und dichten.

Die palästinensische Fahne prangt überall, am Eingang, als Wandgemälde, auf Kinderzeichnungen. Doch sie kümmerten sich um palästinensisch- und syrischstämmige Familien gleichermaßen, beteuert Jamila Shehade, die Leiterin des Zentrums. Viele der Neuankömmlinge seien froh, ihre Kinder zumindest ein paar Stunden pro Tag aus der beengten Wohnung schicken zu können: „Oft teilen sich drei, vier syrische Familien eine Zwei-Zimmer-Wohnung.”

Ohne Arbeit und Bildung droht ein Leben in Armut

Nicht nur die Lebensbedingungen, auch die Perspektiven der syrischen Flüchtlinge sind miserabel, sofern sie längerfristig nicht in ihre Heimat zurückkehren können. Die rund 280.000 palästinensischen Flüchtlinge und ihre Nachkommen im Libanon dienen als eindrucksvolles Beispiel, wie sich eine Flüchtlingskrise über die Jahre in einen prekären Dauerzustand verwandeln kann: Obwohl viele palästinensischstämmige Familien seit drei oder vier Generationen im Libanon leben, bekommen sie nicht die Staatsbürgerschaft. Rund die Hälfte von ihnen lebt in Camps wie Shatila – viele von ihnen in Armut – abhängig von den Hilfsleistungen der UNRWA und diverser NGOs. Das libanesische Gesetz verbietet es ihnen, Land und Immobilien zu kaufen. Über 20 Berufe sind für sie gesperrt, darunter Krankenschwester, Arzt, Anwalt, Ingenieur.

Über den Straßen hängen Kabel und Stromleitungen, aus den Wänden sickert Wasser.

Seit dem Ausbruch des Syrienkriegs 2011 hat der Libanon rund eineinhalb Millionen Syrer aufgenommen. Eine atemberaubende Zahl für so kleines Land: Die Flüchtlinge machen heute ein Viertel der Bevölkerung aus. Zwar stehen ihre Chancen, eines Tages in ein neues, wie auch immer geartetes Syrien zurückzukehren, besser als jene der Palästinenser und ihrer Nachkommen, deren Forderung auf ein „Recht auf Rückkehr” ins moderne Israel gänzlich aussichtslos sind.

Doch bis in dem Land, das einst Syrien war, die Waffen ruhen, zerbombte Städte wieder aufgebaut und die Machtfragen geklärt sind, könnten Jahre, wenn nicht Jahrzehnte vergehen – und mit jedem Jahr wächst das Risiko, dass auch die syrischen Flüchtlinge in den libanesischen Camps, ihrer sozialen und politischen Rechte beraubt, in eine dauerhafte Abhängigkeit von Hilfsorganisationen rutschen.

Rund 90 Prozent der palästinensischstämmigen Syrer im Libanon leben nach Angaben von UNRWA in Armut. Schon vor dem Krieg ging nur ein kleiner Bruchteil der syrischen Frauen arbeiten, der Mann galt und gilt in der weitgehend konservativen syrischen Gesellschaft als Ernährer und Beschützer. Besonders gefährdet sind Familien, die, wie die Abd Al-Baris, ohne erwachsene Männer im Camp leben. Und das betrifft viele: Rund 80 Prozent der syrischen Flüchtlinge im Libanon sind Frauen und Kinder.

An einem heißen Spätsommertag sitzen die vier Frauen zusammen in ihrem kleinen Wohnzimmer. Fatmeh trägt einen leichten Pyjama, als sei sie gerade aufgestanden, dabei ist es früher Nachmittag. Doch Tageszeiten haben in dem zähen, eintönigen Camp-Alltag wenig Bedeutung. Ihre Tochter Hallah, eine junge Frau mit feinen, noch mädchenhaften Zügen, liegt im Sommerkleid neben ihren Kindern auf einer Matratze; daheim und unter Frauen gelten die züchtigen islamischen Kleiderregeln nicht.

Hallahs Mann hat sich vor einem Jahr nach Deutschland durchgeschlagen, er plant, sie und die Kinder nachzuholen. „Er schreibt mir, es ist kalt dort”, sagt Hallah lächelnd, das Handy in der Hand. Noch ist sie guter Dinge, träumt von ihrem neuen Leben in Europa. Doch die Bundesregierung hat den Familiennachzug für Syrer weitgehend ausgesetzt. Ob und wann Hallah Abd Al-Bari ihrem Mann folgen kann, ist völlig offen.

Angst vor Lohndumping

Die UN zahle ihnen 200 US-Dollar im Monat. Das reiche gerade für die Miete, sagt Fatmeh: Wohnen in Beirut ist teuer – selbst in einem schmutzigen Flüchtlingscamp. Hallahs Kinder können immerhin die UN-Schulen im Camp besuchen, womit es ihnen besser geht als jener Hälfte der syrischen Flüchtlingskinder im Libanon, die gar keine Schulbildung bekommen. Doch im Camp sind ihre Perspektiven mit oder ohne Schulabschluss beschränkt.

Westliche Staaten und internationale Organisationen drängen Gastländer wie Libanon und Jordanien, syrischen Flüchtlingen Arbeitsgenehmigungen zu geben. Doch die Aufnahme von eineinhalb Millionen Flüchtlingen wäre auch für ein weit größeres und reicheres Land eine massive Herausforderung, ökonomisch wie sozial.

Viele Libanesen verbergen ihren Unmut nicht. Sie fürchten, die Neuankömmlinge würden Löhne drücken, Mietpreise nach oben treiben und die sensible demografische Balance zwischen Christen, sunnitischen und schiitischen Muslimen bedrohen. Libanons Präsident Michel Aoun verkündete kürzlich, die Syrer sollten so bald wie möglich in sichere Teile ihres Landes zurückkehren.

Vor diesem Hintergrund mag die zeitweilige Versorgung der Flüchtlinge durch die UN und die Unterbringung in Camps vielen als die sozial und ökonomisch verträglichere Lösung erscheinen – sofern es eine Lösung auf Zeit bleibt. Sollten Millionen syrischer Flüchtlinge im Libanon wie in Jordanien nun, ähnlich wie die Palästinenser, jahrelang in Camps dahinvegetieren, ohne Bildung, ohne Jobs, ohne Rechte, droht sich ein neues, millionenstarkes Prekariat im Nahen Osten zu entwickeln – der perfekte Nährboden für Radikalisierung.

Noch hat die 29-jährige Hallah Abd Al-Bari Hoffnung. Sie kann es nicht erwarten, nach Deutschland zu kommen und dem Trübsal, der Armut und dem Staub des Camps zu entfliehen. „Ich warte jeden Tag auf Nachricht von meinem Mann”, sagt sie. Ihre Mutter wünscht es ihr und ihren Kindern von Herzen. „Aber was mache ich, wenn sie weg sind?”, fragt Fatmeh Abd Al-Bari. In ihrer Stimme liegt kein Vorwurf, keine Klage, nur eine große Müdigkeit. „Dann bin ich hier ganz allein.”

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Von Mareike Enghusen, Tel Aviv

Mareike Enghusen berichtet als freie Auslandsreporterin über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Nahen Osten, vor allem aus Israel, Jordanien und den palästinensischen Gebieten. Mehr unter: http://www.mareike-enghusen.de.

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Helen HeckerPalermo
Neun von zehn Frauen in Deutschland, die in der Schwangerschaft die Diagnose Trisomie 21 erhalten, entscheiden sich gegen ihr Kind – so schätzen es zumindest Expert*innen. Belastbare Zahlen gibt es nicht. Unsere Korrespondentin ist selbst betroffen. Sie berichtet, wie sie damit umging und warum sie mehr Aufklärung in der Pränataldiagnostik fordert. 

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