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„Sag Hallo, Schlampe“
Sexualisierte Gewalt in Frankreich

29. September 2021 | Von Giorgia Grimaldi
Emanouela Todorova, geboren in Bulgarien, aufgewachsen in Frankreich und heute eine Berlinerin. Foto: Erik Lasalle

Catcalling, Belästigung und sexuelle Übergriffe – das passt nicht zum Chic der französischen Großstädte. Und dennoch ist es für viele Frauen Realität: Vier Jahre nach #MeToo wird sexualisierte Gewalt immer noch banalisiert. Gleichzeitig ist die Anti-Sexismus-Bewegung so stark wie noch nie.

Von Giorgia Grimaldi, Marseille / Berlin

9. Juli 2020, Straßburg: Das ist sie. Die eine Schikane zu viel. Nicht die schlimmste, aber die eine, die im Leben Emanouela Todorovas alles verändert. Die eine, bei der sie mitten auf der Straße anfängt zu schreien so laut sie kann, um den Typen zum Schweigen zu bringen, der sie eine Hure nennt, weil sie einen Rock trägt und ihn nicht beachtet. Er guckt verdutzt, die Menschen um sie herum ebenfalls. Sonst passiert nichts. Wie immer.

Sie kann nicht sagen, wie oft man ihr schon nachpfiff, sie ungefragt ansprach und auf dem Weg nach Hause verfolgte. Im Jahr 2012 entkam sie einer versuchten Vergewaltigung im Dunkeln einer Tiefgarage nur knapp. Jahrelange Therapie, Selbstzweifel und Schuldgefühle, Isolation von männlichen Bekannten, all das hat sie bereits hinter sich, als diese eine Belästigung acht Jahre nach ihrem Trauma das Fass zum Überlaufen bringt.

 

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Oktober 2020: Die junge Straßburgerin ist wütend. So sehr, dass sie endlich über ihre Erfahrungen sprechen, etwas bewegen will. Denn sie erkennt: Sie ist nicht allein. Und sie trägt keine Schuld an dem, was ihr zustößt.

Anfang 2021: Emanouela Todorova kann ihre Vision schließlich in Worte fassen: „Wenn ich meinen Enkelkindern davon erzähle, wie Frauen im Jahr 2021 behandelt wurden, möchte ich, dass sie mich schockiert ansehen und nicht glauben können, was ich sage.“ Umsetzen will sie dieses Vorhaben zunächst mit Social Media.  

Instagram wird zur Plattform für Opfer

„Hey, Fräulein!“

Heute geht es mir schlecht. Ich habe keine Lust zu reagieren. Ich gehe einfach weiter.

„Hallo! Du bist aber eine Hübsche! Wie geht’s?“

Ich antworte immer noch nicht.

„Warum so schlecht gelaunt? Du bist wahrscheinlich einsam, aber dagegen kann ich etwas machen.“

Ich beschleunige mein Tempo, hänge ihn ab.  

„Schlampe!“

So liest sich einer der vielen Erfahrungsberichte, die täglich auf dem Instagram-Profil „Dis Bonjour Sale Pute“ veröffentlicht werden. Der Name bedeutet auf Deutsch „Sag Hallo, schmutzige Schlampe“ und mag zunächst anzüglich wirken. Doch Emanouela Todorova setzt auf genau diese Wirkung, um die Gesellschaft wachzurütteln. Mit Erfolg. Bereits nach einer Woche folgten 10.000 Abonnent*innen dem Profil. Heute sind es mehr als 130.000 Follower*innen, die ungefähr 2.000 Nachrichten pro Woche mit ihren persönlichen Erfahrungen zur Veröffentlichung schicken.

Screenshot einer Umfrage auf dem Instagram Profil von DBSP: Auf die Frage ‘Wurdet ihr schon mal im öffentlichen Raum verfolgt’ stimmten 77 Prozent mit ‘ja’.

Einige dieser geschilderten Vorfälle gingen kurz nach der Erstellung des Profils Ende 2020 viral, Medien wurden darauf aufmerksam, danach kam eins zum anderen: Für die Aktivistin ist das Projekt zum Fulltime-Job geworden und sie gründete im März 2021 den gleichnamigen Verein „Dis Bonjour Sale Pute“, der aktuell sieben feste Mitglieder und viele freiwillige Helfer*innen zählt.

Mit ihrer Arbeit als Influencerin finanziert sie sich und ihre Aktivität im Verein, aber mit ihrem Team tüftelt sie schon an diversen Geschäftsmodellen, um langfristig auch Gehälter auszahlen zu können. Allerdings findet das weder in Straßburg noch anderswo in Frankreich statt: Mittlerweile lebt Emanouela Todorova in Berlin, denn von der Belästigung auf den Straßen ihrer Heimat hat sie erstmal genug.

Deutschland vs. Frankreich

Jedes Mal, wenn sie ein paar Tage dort verbracht hat, fährt sie frustriert nach Berlin zurück: In Frankreich wird sie täglich, teilweise sogar mehrmals am selben Tag belästigt. Und so geht es offenbar vielen: Die Studien, die von 2018 bis 2020 vom französischen Meinungs- und Marktforschungsinstitut IPSOS durchgeführt wurden, zeigen, dass 81 Prozent der Französinnen mit mindestens einer Form sexuellen Angriffs oder Übergriffs im öffentlichen Raum konfrontiert wurden.

Seit Juni 2021 ist das Buch im Handel in Frankreich, Belgien und in der Schweiz verfügbar (Foto: privat).

Außerdem denken 40 Prozent der Bevölkerung, dass Frauen durch eine „provokante Attitude“ die Aufmerksamkeit eines potenziellen Vergewaltigers auf sich ziehen und – wenn sie es wirklich wollten – ihn durch entsprechende Gegenwehr verscheuchen könnten. In Deutschland hat Emanouela Todorova so etwas kaum erlebt. In der Hauptstadt fühlt sie sich frei und respektiert. Aber auch wenn in Berlin gefühlt weniger sexuelle Übergriffe stattfinden, das Problem existiert trotzdem.

Die Hochschule Merseburg veröffentlichte im Februar 2021 ein alarmierendes Ergebnis, das aber wegen der geringen Teilnehmer*innenzahl von 3.466 Personen auch umstritten ist: 97 Prozent der Frauen und Menschen mit nichtbinärer Geschlechteridentität in Deutschland erleben demzufolge mindestens einmal sexualisierte Belästigung im Leben. Dazu gehören Blicke, Gesten, Kommentare oder körperliche Übergriffe.

Die Vergewaltigungskultur

Viele feministische Aktivist*innen sind sich einig: Sexualisierte Gewalt an Frauen im öffentlichen Raum ist kein zusammenhangloses Problem, sondern eine Facette der „Vergewaltigungskultur“. Diese entstand in der amerikanischen Feminismus-Bewegung der 1970er und bezeichnet eine Gesellschaft, in der Vergewaltigungen und andere Formen der Gewalt vor allem an Frauen und weiblich gelesenen Personen toleriert werden. Dabei entziehen sich die Täter mit sexistischen Erklärungen wie „Mit dem Outfit kein Wunder“ der Verantwortung und übertragen die Schuld zu Unrecht auf die Opfer

Das erste Buch des Vereins, geschrieben von der Gründerin (Foto: Erik Lasalle).

Und genau hier möchte Todorovas Verein ansetzen – bei den Männern. Denn auch wenn sich immer mehr Männer von der Vergewaltigungskultur distanzieren: Es sind zwar nicht alle Männer Täter, aber fast alle Opfer sind Frauen. In der Umfrage des französischen Instituts für Gleichstellung aus dem Jahr 2015 gaben sogar 100 Prozent der 600 befragten Frauen an, mindestens einmal Belästigung und Gewalt in den öffentlichen Verkehrsmitteln Frankreichs erlebt zu haben.

Hashtags und weibliche Wut

Zwei Jahre, nachdem die 100 Prozent durch die französische Presse gingen, überschlugen sich die Enthüllungen mit dem Hashtag #MeToo. Das französische Pendant #balancetonporc, auf Deutsch „Verpfeif dein Schwein“, übernahm die Führung. Der davon inspirierte Song „balance ton quoi“ der belgischen Sängerin Angèle besetzte im Jahr 2019 wochenlang die frankophonen Charts, begeisterte mit dem humoristischen Musikvideo und ist für viele zur Anti-Sexismus-Hymne geworden. Unter dem Hashtag #ubercestover („Uber ist vorbei“) häuften sich in den sozialen Netzwerken seit 2018 Aussagen von Frauen, die von Uber-Fahrern belästigt oder vergewaltigt wurden.

Im Januar 2021 sorgte ein Artikel der Zeitung„Libération“ für neue Aufregung: Zehn Studentinnen des Campus für Politikwissenschaften in Bordeaux behaupten, während ihres Studiums vom Lehrpersonal belästigt oder vergewaltigt worden zu sein. Weitere Opfer meldeten sich unter dem Hashtag #SciencePorcs, übersetzt „Wissenschaft der Schweine“. Im März 2021 wurde die Dokumentation „Je ne suis pas une salope je suis une journaliste“, auf Deutsch „Ich bin keine Schlampe, ich bin Journalistin“, veröffentlicht.

In dem Videobeitrag befragt die bekannte TV-Journalistin Marie Portolano Kolleginnen der Branche und enthüllt ihre Erfahrungen sexualisierter Gewalt im Beruf. In einem Interview mit der Online-Zeitung Sofoot.com sagt sie: „Es handelt sich um systematischen Sexismus, der Männern erlaubt, bestimmte Sätze zu sagen und dabei zu denken, das ist ok. Wenn du vor der Kamera stehst, kommen schon mal solche Sätze wie ‚Warum ziehst du nicht einen Push-up-BH an? Es wäre besser, wenn das Publikum deine Brüste sehen könnte!‘“

Blick in die Zukunft: „Ohne Männer geht’s nicht“

Es scheint also, als wäre der Diskurs in Frankreich angekommen. Darauf aufbauend veröffentlichte die Organisation Todorovas vor Kurzem das erste Buch. Das pädagogisch aufgebaute Nachschlagewerk „Dis Bonjour Sale Pute – Belästigung im öffentlichen Raum verstehen, melden und aktiv werden“ ist seit Juni 2021 im Handel erhältlich. Wie erkenne und denunziere ich sexualisierte Gewalt? Wie reagiere ich auf diese Aggressionen und wie gehe ich mit posttraumatischem Stress um? Mit diesen Fragen beschäftigen sich Emanouela Todorova, die Therapeutin Valentina Meier und andere Expert*innen.

‘Du vergehst dich an einer, aber wir antworten alle’ Plakat einer Demonstratin am 8. März 2021 in Marseille (Foto: Giorgia Grimaldi).

Die Zielgruppe des Buches: vor allem Opfer – und Männer. „Wir brauchen die Männer im Kampf gegen sexualisierte Gewalt im öffentlichen Raum“, davon ist die Autorin überzeugt. Und es gibt sie – die Männer, die sich engagieren. Jamel Boutiba, Direktor des Konzerns L’Oréal Paris, hat maßgeblich am internationalen Programm „Stand up“ mitgewirkt, das unter anderem Aufklärungsseminare gegen sexuelle Belästigung für Firmen anbietet. „Wir wollen gemeinsam eine Kultur aufzubauen, in der Belästigung inakzeptabel wird. Das geht uns alle etwas an“, sagte Boutiba im Interview mit Florence Besson, Journalistin der Zeitschrift „ELLE“, im November 2020.

Für die Zukunft hat sich der Verein hohe Ziele gesetzt: Die Mitglieder wollen in die Schulen und Universitäten gehen, um Präventionsunterricht anzubieten. Aufklärung zur Vorbeugung häuslicher Gewalt gibt es in Frankreich vermehrt, seit die Zahlen während der Pandemie anstiegen. Gleichzeitig finden sich kaum Sensibilisierungsangebote gegen Belästigung im öffentlichen Raum.

Außerdem wird es bald die erste App Frankreichs geben, die den Opfern sexualisierter Gewalt erlaubt, auf einen Klick Hilfe, sei es Kontakte für Notfälle oder auch Verhaltenstipps, anzufragen. „Wir haben noch so viel Arbeit vor uns,“ meint Emanouela Todorova, „aber ich glaube daran, dass wir es schaffen… auch wenn wir höchstwahrscheinlich nicht die Früchte unserer Arbeit sehen werden – aber ich hoffe meine Kinder oder die Kinder meiner Kinder.“

 

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Von Giorgia Grimaldi, Berlin / Marseille

Giorgia Grimaldi berichtete einige Jahre aus Marseille über Frankreichs Politik und Gesellschaft. Heute arbeitet sie hauptberuflich als Nachrichtenredakteurin in Berlin. Am liebsten recherchiert sie dabei zu Migration und News aus dem Ausland. Weiterhin hat sie Frankreichs Entwicklungen im Blick und kehrt so oft es geht dorthin zurück.

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Eva TempelmannMünster / Lima
Bis zu 40 Prozent der Frauen machen bei der Geburt ihrer Kinder gewaltvolle, teils traumatische Erfahrungen im Kreißsaal. Lena Högemann wirft in ihrem Buch „So wollte ich mein Kind nicht zur Welt bringen“ einen feministischen Blick auf die Geburtshilfe und zeigt Wege auf für mehr Selbstbestimmung.

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