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Rechtsruck beim Vorzeigeland
Black Lives Matter – oder nicht?

2. November 2022 | Von Olivia Samnick
Die Minderheitsregierung des neuen schwedischen Ministerpräsidenten Ulf Kristersson ist auf die Zusammenarbeit mit der rechtspopulistischen Partei angewiesen. Fotos: Unsplash

Nach den Wahlen in Schweden und Italien ging ein Raunen durch Europa. Was bedeutet der demokratisch gewählte Rechtsruck für jene, die schon lange dagegen ankämpfen? Unsere Autorin Olivia Samnick hat die Initiatorin der schwedischen Black Lives Matter-BewegungIsatou Aysha Jones dazu interviewt.

Frau Jones, Schweden blickt in eine Zukunft unter (rechts-)konservativer Führung. Was war Ihre erste Reaktion darauf?

Ich war auf einer Wahlfeier der Linkspartei – „Vänsterpartiet“ – wo ich ebenfalls aktiv bin, als mir klar wurde, was da passiert. Zunächst habe ich versucht, ruhig zu bleiben. Aber dann habe ich mir überlegt, was ich meinen drei Kindern am nächsten Tag am Frühstückstisch erzählen soll. Wie erkläre ich ihnen, dass die zweitgrößte Partei jetzt eine rassistische Nazi-Partei ist? Ich musste die Feier verlassen. Doch dann habe ich beschlossen zu kämpfen.

Im Wahlkampf konnte der konservative Block vor allem durch das Thema Bandenschießereien Zustimmung gewinnen. Diese finden überdurchschnittlich oft in Wohngegenden mit marginalisierter Bevölkerung statt. Geworben wurde etwa mit mehr Polizeipräsenz. Dabei hat selbst der schwedische Polizeipräsident Anders Thornberg zuvor gesagt, dass er ein Problem darin sehe, dass zu wenig getan werde gegen die Ausgrenzung, Arbeitslosigkeit und den Mangel an erwachsenen Vorbildern für die jungen Männer, die am Häufigsten in die Schießereien verwickelt sind. Wo blieb da der Gegenwind der übrigen Parteien?

Ich denke, da haben diese versagt. Anstatt solche Narrative in Frage zu stellen, haben wir – und damit meine ich auch meine Partei, die Linke – sie hingenommen. Es fehlten Diskussionen darüber, warum Menschen mit Migrationshintergrund öfter arbeitslos sind, warum wir die Schießereien in diesen Gebieten haben mit eben diesen Menschen. Eine Partei – die Moderaten – schlug vor, ADHS-Screenings bei Kindern in marginalisierten Gebieten durchzuführen, um die Bandengewalt zu bekämpfen. Die Liberalen schlugen vor, Sprachtests ab dem Alter von zwei Jahren für Kinder durchzuführen, die noch nicht in den Kindergarten gehen. Sie behaupteten, dass Kinder sonst Gefahr laufen würden, in Bandenkriminalität verwickelt zu werden. All das ist rassistisch, aber wir haben nicht wirklich widersprochen.


 

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Warum nicht?

Viele Leute haben Angst, ihre eigenen Privilegien zu verlieren, wenn sie die Welt gleichberechtigter gestalten. Dabei bedeutet das lediglich, dass andere Menschen auch Privilegien und Grundrechte bekommen. Ich denke, wir müssen erkennen, dass unsere Politiker bewusst blinde Flecken haben. An fehlender Bildung kann es nicht liegen. Google ist umsonst. Es fehlt auch der Wille, etwas nachhaltig zu verändern.

Als ich nach Schweden kam, um zur Situation marginalisierter Menschen zu recherchieren, sagte man mir: Das Schlimmste, was man einer Schwedin oder einem Schweden antun könne, sei, die Person rassistisch zu nennen. Wie sehen Sie das?

Ich lebe hier, seitdem ich zwei Jahre alt bin und kann daher bezeugen, dass diese Aussage stimmt. Die Leute scheinen international überrascht zu sein, dass Schweden gerade jetzt eine rassistische Regierung gewählt hat. Es ist ein Verbrechen, jemanden rassistisch zu nennen, aber es ist kein Verbrechen, ein Rassist zu sein. Tatsächlich hatte Schweden schon immer ein Rassismus-Problem, wie die Geschichte zeigt.

Schweden hat sich als eines der ersten europäischen Länder in den 1960ern und 70ern der Entwicklung einer anti-rassistischen Haltung gewidmet und wurde Vorbild für andere Nationen. Das zeigen verschiedene Forschungsarbeiten. Darin heißt es jedoch auch: Rassismus wird zwar gesehen, jedoch häufig nur als Problem anderer Länder. Eine strukturelle und institutionelle Diskriminierung im eigenen Land – in Schulen, am Wohnungsmarkt und andernorts – wird nicht anerkannt. Strickt sich Schweden eine rassismusfreie Utopie?

Das ganze Land hat eine Art Illusion entwickelt: „Wenn wir keine Hautfarben sehen, sind wir nicht rassistisch.“ Der Fachbegriff hierfür ist Colorblindness und fußt auf einer rassistischen Mentalität. Die Entscheidung, die Ungleichbehandlung etwa bei der Vergabe von Wohnungen aufgrund der Bewertung einer Hautfarbe nicht zu sehen, ist genauso entmenschlichend wie rassistische Stereotypen. Wir werden nicht an allen Orten willkommen geheißen. Wir bekommen nicht dieselben Möglichkeiten. Ich möchte, dass die Menschen meine Hautfarbe sehen, denn alles im System sieht meine Hautfarbe und beurteilt mich nach meiner Hautfarbe.

Isatou Aysha Jones ist dreifache Mutter, Mode- und Beauty-Influencerin und die Gründerin der schwedischen Black Lives Matter-Bewegung. | Foto: privat

Und dennoch: International überwiegt das Image eines liberalen, offenen Landes mit modernen Ansichten.

Schweden leistet eine bemerkenswerte PR-Arbeit dabei zu vertuschen: Vor langer Zeit war Schweden etwa führend im Handel von Metallen mit Sklavenhändlern. Es wurde damit ein Vermögen verdient. Gleichzeitig präsentiert sich das Land als gewaltfrei, als neutrales Land, das noch nie Krieg geführt hat. So neutral in all dem sind wir nicht.

Im Jahr 2020, nach dem Mord an George Floyd, haben Sie die schwedische Black Lives Matter-Bewegung ins Leben gerufen. Die Anfänge liefen komplett digital ab. Wie ging es los?

Ich war frustriert, wütend, enttäuscht und verängstigt: Wir wissen nicht erst seit dem Tod von George Floyd in den USA wie es ist, diskriminiert zu werden. Es geht nicht darum, ob, sondern wann, von wem, wo und wie hart es jemanden treffen wird. Für andere war das Filmmaterial des Mordes augenöffnend. Leute fragten sich zum ersten Mal: „Passiert das wirklich?“ Ich musste etwas tun. Als Mode- und Beauty-Influencerin habe ich eine Social-Media-Reichweite. Also startete ich eine digitale Protestaktion mit einem Facebook-Event. Meine Freunde unterstützten die Idee.

Ich forderte die Menschen dazu auf, sich bei der US-Botschaft per Geotag zu verewigen, anstatt physisch vor Ort zu erscheinen. Wir steckten damals mitten in der Pandemie. Ich hatte mit ein paar Hundert, maximal Tausend Menschen gerechnet. Am nächsten Morgen wurde ich mit Nachrichten bombardiert. Wir bekamen nationale, dann internationale Aufmerksamkeit. Innerhalb der ersten 24 Stunden erreichte die Facebook-Veranstaltung 1,3 Millionen Menschen. Danach habe ich in einem Livestream gesagt, wir müssen das jede Woche machen. Das haben wir dann ein ganzes Jahr lang gemacht.

Dann wurde die Beteiligung weniger.

Der Hass und die Morddrohungen, die ich erhalten habe, haben mich ausgelaugt. Es gab Zeiten, in denen ich nicht in den Supermarkt gehen konnte, ohne jemandem vorab Bescheid zu sagen. Meine drei Kinder mussten aus demselben Grund ständig Sicherheits-Apps auf ihren Handys nutzen. Zu dieser Zeit kam ich aus einer langjährigen Ehe. Ich konnte noch nicht einmal in Ruhe zu einem stinknormalen Date gehen. Irgendwann musste ich mich wegen Erschöpfung und Depression krankschreiben lassen. Ich glaube, als ich ausbrannte, brannte auch ein Großteil der Bewegung aus.

Wie meinen Sie das?

Ich war die treibende Kraft, obwohl ich nicht die einzige war. Ich war jedoch diejenige, die in der Öffentlichkeit stand und mit der die meisten Leute den Kontakt suchten. Ich glaube, die Leute sahen die schlimmen Nebenwirkungen davon und hatten Angst, sich selbst einzubringen. Die Sache mit dem Rassismus ist leider die: Man muss die Dinge immer wieder für andere sichtbar machen, damit die Menschen tatsächlich etwas fühlen. Genau das hat der Mord an George Floyd bewirkt. Er gab dem Rassismus ein Gesicht. Jetzt habe ich Black Lives Matter umstrukturiert. Wir werden wieder laut und sichtbar sein.

Was haben Sie vor?

Ich denke, wir müssen unsere eigenen Infrastrukturen aufbauen. Wie können wir unseren Kindern eine gute Ausbildung bieten? Wie helfen wir ihnen bei den Hausaufgaben? Wie rüsten wir sie geistig, seelisch und körperlich für die harte Welt, in der wir leben? Wir müssen auch an die grundlegenden Dinge denken: jeden Tag ein Frühstück anbieten. In der Gegend, in der ich wohne, gibt es Kinder, die morgens nichts zu essen bekommen. Wie sollen sie dann gute Leistungen in der Schule erbringen? Die zentrale Frage ist: Wie schützen wir Schwarze, braune und indigene Menschen?

Worin liegt ihre größte Herausforderung im Moment?

Wir arbeiten bei Black Lives Matter Sweden ohne jegliche Finanzierung. Das ist der Grund, warum so viele ausgebrannt sind. Wir machen das in unserer Freizeit. Wir haben Geschäftstreffen an unseren Geburtstagen. Wir nehmen Anrufe entgegen, wenn wir eigentlich Pause haben. Und: Wir haben großartige Leute bei der „Afrosvenska Riksorganisation“, einer afro-schwedischen Nichtregierungsorganisation, oder bei „Afrosvenskarnas Forum för Rättvisa“, die Antidiskriminierungsarbeit leisten. Wir haben Facebook-Gruppen. Ich möchte, dass unsere Bewegung eine vereinte Bewegung ist, in der jede Schwarze, braune und indigene Organisation zusammenkommen und diskutieren kann: Was habt ihr auf dem Tisch? Lasst uns dafür sorgen, dass alle Hand in Hand zusammenarbeiten, um das zu unterstützen. Tun wir das oft genug? Nein. Aber wir werden immer besser darin.

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Von Olivia Samnick, Berlin

Olivia Samnick arbeitet als freie Journalistin und Filmemacherin in Berlin. Sie studierte in Passau, Hamburg und Aarhus und absolvierte ein Volontariat beim Wirtschaftsmagazin „impulse“. Immer wieder widmet sie sich langfristigen Dokumentarfilmprojekten und berichtet über Trends und Entwicklungen im Journalismus, u. a. für „Übermedien“ und ihren Journalismus-Podcast „Bonjourno“.

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Eva TempelmannMünster / Lima
Bis zu 40 Prozent der Frauen machen bei der Geburt ihrer Kinder gewaltvolle, teils traumatische Erfahrungen im Kreißsaal. Lena Högemann wirft in ihrem Buch „So wollte ich mein Kind nicht zur Welt bringen“ einen feministischen Blick auf die Geburtshilfe und zeigt Wege auf für mehr Selbstbestimmung.

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