Lerne inspirierende Frauen aus der ganzen Welt kennen.

Lerne inspirierende Frauen weltweit kennen.

Mut zur Muttermilch
Wie sich eine Kinderärztin fürs Stillen einsetzt

3. September 2025 | Von Helen Hecker | 11 Minuten Lesezeit
Unterstützung macht den Unterschied: Stillen ist zwar ein natürlicher Vorgang, doch gerade in den ersten Tagen oft eine Herausforderung. Alle Fotos: Helen Hecker

Italien hat eine der niedrigsten Stillraten Europas. In Sizilien stillen nur knapp 20 Prozent der Mütter nach den ersten sechs Monaten. Die Kinderärztin Iwona Kazmierska will das ändern. In Palermo gründete sie die erste Frauenmilchbank der Insel und unterstützt Mütter dabei, ihr Vertrauen ins Stillen zurückzugewinnen.

 

Zusammenfassung:

Die Kinderärztin Iwona Kazmierska kämpft in Palermo für eine neue Stillkultur. In einer Region mit extrem niedriger Stillrate gründete sie Siziliens erste Muttermilchbank und unterstützt Mütter dabei, Vertrauen in ihre Fähigkeit zu stillen zu gewinnen. Sie sieht Stillen nicht nur als Ernährung, sondern als Bindung, Medizin und Empowerment – und setzt sich gegen Mythen, Industrieeinflüsse und veraltete Klinikpraktiken ein.

 

Von Helen Hecker, Palermo

Sonntag ist gewöhnlich ein ruhiger Tag auf der Neugeborenstation im „Buccheri La Ferla“-Krankenhaus in Palermo. Iwona Kazmierska geht von Zimmer zu Zimmer und schaut nach den kleinen Neuankömmlingen und ihren Müttern. In einem der Betten liegt Giorgia Melili mit ihrem Sohn Filippo. Er ist erst vor wenigen Stunden zur Welt gekommen und trinkt ruhig an der Brust seiner Mutter. Ein Moment, der selbst der erfahrenen Kinderärztin ein Lächeln bereitet.

Für Melili ist es das erste Kind – und das erste Mal Stillen. Im Geburtsvorbereitungskurs schien alles klar, doch die Praxis lässt Fragen offen. Verunsichert erkundigt sie sich, ob ihr Baby beim Trinken ersticken könnte; ein Arzt hatte ihr geraten, beim Anlegen die Nase freizuhalten.

Kazmierska beruhigt sie: Die Natur habe vorgesorgt. Die kleine Kerbe zwischen Nase und Oberlippe ermögliche auch bei engem Hautkontakt freies Atmen. „Je näher das Gesicht an der Brust liegt, desto besser“, erklärt sie – denn nur so sei sichergestellt, dass die Mutter Schmerzen vermeidet. Die Frage der jungen Mutter ist für Kazmierska typisch für viele Mythen rund ums Stillen, die noch immer unter Mediziner*innen kursieren.

Inniger Start: Giorgia Melili stillt ihren Sohn Filippo kurz nach der Geburt im Krankenhaus von Palermo.

Mythen ums Stillen

Seit mehr als zwanzig Jahren lebt die gebürtige Polin in Palermo und hat das Stillen zu ihrer Mission gemacht. Wenn Mütter zu ihr kommen, überzeugt davon, „nicht richtig stillen zu können“, hört sie oft absurde Thesen. „Wenn ein Arzt sagt: ‚Du hast zu wenig Milch‘ – wer widerspricht da?“ Besonders bitter sei, dass viele Fachkräfte nicht auf dem neuesten Stand seien. Sie sagt, manche wüssten nicht einmal, dass Muttermilch lebendig sei.

Dabei brauche es zu Beginn oft nur einen geschulten Blick, eine helfende Hand beim Anlegen, Ermutigung statt Panik. „Es gibt all diese magischen Pulver, die angeblich die Milchbildung steigern. Doch weder Medikamente, noch Tee oder Nahrung, sind dazu im Stande. Allein das regelmäßige, vollständige Trinken des Babys kann das.“

Stillen sei zwar ein natürlicher Vorgang, der Anfang aber oft herausfordernd. Viele Frauen würden schnell entmutigt – sei es durch fehlende Aufklärung, falsche Ratschläge oder Krankenhausprotokolle, die Mutter und Kind unmittelbar nach der Geburt trennen.

Stolz zeigt Dr. Kazmierska eine frisch gewonnene Portion Muttermilch – für sie nicht nur Nahrung, sondern gleichzeitig Medizin.

Italien in der Stillkrise

Insbesondere in Italien ist die Stillrate alarmierend niedrig: Laut Gesundheitsministerium stillen landesweit nur rund 40 Prozent der Mütter nach sechs Monaten – im Süden, etwa in Sizilien oder Kalabrien, sind es teils sogar weniger als 20 Prozent. Damit liegt das Land im europäischen Vergleich weit zurück: In Deutschland sind es über 60 Prozent, in Skandinavien über 80 Prozent.

Die Ursachen sind vielfältig: Es fehlt an Aufklärungsprogrammen, professionellen Schulungen des Fachpersonals und der Einfluss der Babynahrungsindustrie ist enorm, weiß Kazmierska. Viele Fortbildungen wurden über Jahre von Herstellern finanziert. Für ihre internationale Zertifizierung als IBCLC-Stillberaterin (International Board Certified Lactation Consultant) musste Kazmierska sogar schriftlich erklären, nie von Babynahrungsfirmen unterstützt worden zu sein.

Auch in der italienischen Facharztausbildung wurde Stillen kaum thematisiert, während künstliche Säuglingsnahrung oft als gleichwertige Alternative präsentiert wurde. „Manche glauben wirklich, es sei dasselbe – das ist es aber nicht.“ Für sie ist Stillen weit mehr als Ernährung: Es sei Bindung, Medizin und Prävention zugleich. „Muttermilch enthält mehr als 220 bioaktive Substanzen – Antikörper, lebende Zellen, Enzyme –, die das Kind vor Infektionen schützen. In künstlicher Nahrung findet sich nichts davon“, erklärt die Ärztin.

Eine Bank mit flüssigem Gold: Besonders das Kolostrum – die Anfangsmilch nach der Geburt – ist für Frühgeborene oft lebensrettend.

Von Polen nach Palermo

Diese Erkenntnis kam der heute 51-Jährigen bereits als junge Ärztin in Palermo. 1988 kam sie erstmals als Erasmus-Studentin in die süditalienische Metropole und verliebte sich sofort in die Stadt. Nach ihrem Abschluss in Polen kehrte sie zurück und begann am „Buccheri La Ferla“-Krankenhaus zu arbeiten – zunächst in der gastroenterologischen Abteilung.

Dort fiel ihr auf, dass viele Kinder mit Allergien künstlich ernährt wurden, während gestillte Babys deutlich seltener betroffen waren. Eine Beobachtung, die ihre berufliche Laufbahn grundlegend veränderte. Für sie war klar: Der Schlüssel zur Prävention liegt allein in der Muttermilch.

Um sich später als Kinderärztin zu spezialisieren, absolvierte sie eine Ausbildung zur Stillberaterin. „Der Kurs öffnete mir eine neue Welt”, sagt sie heute. Vor allem Frühgeborene, die anfangs oft nicht in der Lage sind, von der Brust zu trinken und intensivmedizinisch versorgt werden müssen, rückten dabei in ihren Fokus. „Für sie ist Muttermilch ein lebensrettendes Medikament.“

Eintritt in die „Banca del latte“: Die erste Frauenmilchbank Siziliens im Buccheri La Ferla Krankenhaus Palermo.

Die erste Muttermilchbank Siziliens

Um die kleinen Patient*innen bestmöglich versorgen zu können, gründete sie – inspiriert von den Muttermilchbanken in Norditalien – 2005 die erste „Banca del Latte Umano Donato“ Siziliens. Ein Meilenstein auf einer Insel, die beim Stillen lange rückständig war. Rund 200 bis 300 Frühgeborene sowie Neugeborene mit besonderen Bedürfnissen, wie etwa Herzfehlern oder seltenen Allergien, werden dort jährlich betreut.

Spenderinnen sind oft selbst Mütter von Frühchen, die später aus Dankbarkeit einen Teil ihrer Milch weitergeben, sowie Mütter mit Milch im Überschuss. Entweder bringen sie ihre Milch tiefgefroren von zuhause in die Klinik oder pumpen sie direkt vor Ort ab – in einem eigens eingerichteten Raum, der Kazmierska am Herzen liegt.

„Er ist nicht nur funktional, sondern bietet die Möglichkeit sich auszutauschen“, sagt sie. Das Gefühl, nicht allein zu sein, sei oft der erste Schritt zu neuem Selbstvertrauen. Ein Miteinander, das früher selbstverständlich gewesen sei und heute oft fehle. Besonders stolz ist die Ärztin zudem auf das System ihrer Muttermilchbank: Anders als in vielen Kliniken im Norden, welche die Milch mischen, wird in Palermo jede Spende separat gelagert und gezielt je nach Bedarf eingesetzt.

Das Verfahren verbessert damit nicht nur die Verträglichkeit, sondern kann sogar Leben retten. „Gerade bei Frühchen ist das gehaltvolle Kolostrum (die erste Milch nach der Geburt) überlebenswichtig, da es beim Wachsen hilft und reich an Abwehrstoffen ist“, betont Kazmierska.

Die gespendete Milch wird unter strengsten Kontrollen bei minus 20 Grad gelagert und vor der Verwendung bei 62,5 Grad pasteurisiert, um Keime abzutöten. Pünktlich zum zehnjährigen Jubiläum ist die neue Pasteurisierungsmaschine eingetroffen, die künftig nur noch 15 Sekunden statt wie bisher 30 Minuten benötigt. Das schont die wertvollen Immunstoffe – und macht die Milch schneller einsatzbereit.

In einem extra eingerichteten Raum finden Frauen nicht nur Ruhe zum Milchpumpen sondern vor allem den wichtigen Austausch untereinander.

Zwischen Aktivismus und kulturellem Wandel

Heute gibt es auf Sizilien bereits zwei weitere Muttermilchbanken. Auch Aktionen wie die Weltstillwoche oder das regionale Stillkomitee zeigen: Es bewegt sich etwas. Doch vieles hängt weiterhin von Einzelinitiativen ab, Fördermittel fehlen und der Einfluss der Babynahrungsindustrie bleibt groß. „Die Medien müssten viel aktiver werden“, findet Kazmierska.

Neben ihrer Arbeit im Krankenhaus organisiert sie Fortbildungen für medizinisches Personal, kostenlose Infoveranstaltungen in benachteiligten Stadtteilen und lädt auch Großmütter in ihre Geburtsvorbereitungskurse ein. Viele von ihnen hätten selbst nie gestillt und würden ihre Unsicherheit weitergeben.

Dass das Stillen in Süditalien an Bedeutung verlor, erklärt die Historikerin Valeria Babini mit dem kulturellen Wandel nach dem Zweiten Weltkrieg: Mit der Industrialisierung der Babynahrung galt Flaschenmilch plötzlich als modern, Stillen dagegen als rückständig oder gar unzivilisiert. Werbung und Gratisproben verdrängten somit ein Wissen, das einst Generation zu Generation weitergegeben wurde.

Stillrate in Sizilien besonders niedrig

Eine aktuelle Studie in der Fachzeitschrift „Epidemiologia & Prevenzione“ bestätigt zudem: In ärmeren Regionen Siziliens ist die Stillrate besonders niedrig – auch wegen der schwierigen Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit. „Ich jongliere zwischen Milchpumpe, Vorräten und Notrufen meiner Mutter – an der Uni hat dafür niemand Verständnis“, erzählt eine junge Mutter aus Palermo, die anonym bleiben möchte.

Gemeinsam mit anderen Müttern des Vereins „L’Arte di Crescere“ kämpft sie für eine neue Stillkultur – eine, die Frauen nicht danach bewertet, ob sie stillen oder nicht, sondern jede Frau unterstützt, die es versucht. Auch Ärztin Iwona Kazmierska ist überzeugt, dass Stillen niemals zum Zwang werden darf. Über die Jahre hat sie Hunderte Frauen begleitet.

Manche Geschichten vergisst sie nie: Etwa die Mutter, die nach einer Brustkrebs-OP stolz mit ihrer verbliebenen Brust stillte. Oder jene, die nach dem Tod ihres Kindes ihre Milch spendete – als stille Geste von Liebe und Weiterleben. Sie ist überzeugt: „Das Wichtigste ist, dass sich jede Frau gehört und gestärkt fühlt, unabhängig davon, welchen Weg sie geht.“


 

Steady


Du magst unsere Geschichten über inspirierende Frauen weltweit und willst uns AKTIV unterstützen? Darüber freuen wir uns! Entweder wirst du ab 5 Euro im Monat Mitglied bei Steady (jederzeit kündbar) oder lässt uns eine Direktspende zukommen. Wir sagen: Danke, dass du deinen Beitrag leistest, damit guter Journalismus entstehen und wachsen kann.


 


image/svg+xml

Von Helen Hecker, Palermo

Helen Hecker berichtet als freie Redakteurin und Fotografin für Online, Print und TV. Sie ist unsere Community Managerin und kümmert sich darüber hinaus um unseren Instagram-Kanal. Nach ihrem Studium zur Sprach- und Politikwissenschaftlerin in Bamberg zog es sie 2008 nach Sizilien. Dort war sie lange Zeit für die nationale Dokumentarfilm-Akademie tätig und spezialisiert sich in ihrer Auslandkorrespondenz auf Italien. Mehr: www.helenhecker.de.

Alle Artikel von Helen Hecker anzeigen

image/svg+xml
Helen HeckerPalermo
Italien hat eine der niedrigsten Stillraten Europas. In Sizilien stillen nur knapp 20 Prozent der Mütter nach den ersten sechs Monaten. Die Kinderärztin Iwona Kazmierska will das ändern. In Palermo gründete sie die erste Frauenmilchbank der Insel und unterstützt Mütter dabei, ihr Vertrauen ins Stillen zurückzugewinnen.
Anna SchützMontpellier
Künstliche Intelligenz verändert Gesellschaften – doch wer bestimmt ihre Regeln? In Frankreich prägen Fachleute den Diskurs. Mit einem klaren Blick auf Ethik, Mitbestimmung und gesellschaftliche Auswirkungen gestalten sie gemeinsam eine KI-Politik, die nicht nur effizient, sondern fair sein will.
Marinela PotorDetroit
Die Transgender-Gemeinschaft ist ein erklärtes Feindbild rechter Extremist*innen in den USA. Seit seiner Amtseinführung setzt Präsident Donald Trump eine radikale Anti-Trans-Agenda im Land durch. Das sorgt für Angst und Verunsicherung, aber auch für Widerstand. 

Newsletter Anmeldung

Trage dich jetzt für unseren kostenfreien Newsletter ein, der dich jede Woche mit aktuellen Infos zu neuen Artikel und mit Neuigkeiten rund um DEINE KORRESPONDENTIN versorgt!

Abonniere unseren kostenfreien Newsletter