Christine Rollard ist eine der bekanntesten Spinnenexpert*innen in Frankreich. Die Biologin hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, ihr Wissen über die ungeliebten Tiere zu teilen – und erklärt, warum man keine Angst vor ihnen haben muss.
Von Elisa Kautzky, Paris
Zusammenfassung:
Christine Rollard, eine der führenden Spinnenexperti*nnen Frankreichs, hat sich der Aufklärung über die oft missverstandenen Tiere verschrieben. Trotz Widerständen in der männerdominierten Wissenschaft setzte sie sich durch und lehrt seit 1988 am Naturkundemuseum in Paris. Neben Forschung und Lehre bietet sie Sensibilisierungssitzungen für Menschen mit Spinnenangst an. Ihr Ziel: Wissen vermitteln und Vorurteile abbauen. 2025 geht „Madame Spinne“ in den Ruhestand, ihre Nachfolgerin steht bereits fest.
Wer das Büro von Christine Rollard betritt, sieht überall Spinnen. Auf dem Regal zur linken Seite reihen sich Gläser in unterschiedlichen Größen, in deren Flüssigkeit tote Spinnen schwimmen. Poster von verschiedenen Spinnenarten hängen an den Wandschränken. Hinter ihrem Schreibtisch sind Kuscheltier-Spinnen und sogar ein Spinnen-Mobilé für Kinder aufgereiht. Die Biologin selbst trägt eine silberne Halskette in Form einer Spinne und einen Netz-Ohrring.
Schon auf den ersten Blick wird klar: Christine Rollard hat eine Leidenschaft für Spinnen. Seit 1988 forscht und lehrt die 67-Jährige am staatlichen Naturkundemuseum in Paris. Ihr Arbeitsort befindet sich auf dem historischen Campus Buffon, direkt am Jardin des Plantes. Und sie ist nicht allein in ihrem Büro: Derzeit wohnen drei Spinnen aus Französisch-Guyana, die eine Kollegin mitgebracht hat, in Terrarien bei ihr.
Hochsensible Tiere
„Ganz junge Vogelspinnen“, sagt Rollard. Jetzt erst wenige Zentimeter groß, könnten die haarigen Achtbeiner in ein paar Jahren bis zu zehn Zentimeter groß werden. „Achtung: Spinnen haben weder Haare im typischen Sinne noch Fell, sondern sogenannte sensorische Borsten oder Tasthaare, mit denen sie ihre Umgebung ertasten können“, erklärt sie. Diese Tasthaare sind hochsensibel und unverzichtbar für die Wahrnehmung der Tiere.
„Spinnen sind also auch sehr saubere Tiere, die sich regelmäßig reinigen, wie Katzen”, betont sie. Rollard greift in eine kleine Schachtel, um eine abgestreifte Spinnenhaut zu präsentieren. „Wenn Spinnen wachsen, entledigen sie sich ihrer Haut.“ Die Borsten fühlen sich überraschend weich an, fast seidenartig.
Rollards Liebe zur Natur entwickelte sich bereits in ihrer Kindheit. Sie wuchs auf dem Land im Westen Frankreichs auf, als Tochter eines Ingenieurs und einer Lehrerin. Im großen Garten der Familie beobachtete sie die Tiere und Pflanzen, die sie umgaben. Nach dem Abitur mit 17 Jahren wollte sie Sonderpädagogin werden, fiel jedoch durch die Aufnahmeprüfung. Also schrieb sie sich an der naturwissenschaftlichen Fakultät in Nantes ein. Dort spezialisiert sie sich auf Ökologie, Tier- und Pflanzenbiologie.
„Zunächst wollte ich Meeresbiologin werden“, erzählt sie. Ein Universitätspraktikum über Fischparasiten weckte ihr Interesse an Beziehungen zwischen Organismen – aber noch nicht für Spinnen. Ein entscheidender Wendepunkt war ein Angebot in Rennes, das sie auf dem Weg zu einem Doktortitel nicht ausschlagen konnte: ein D.E.A. – vergleichbar mit einem Master – über Insekten-Parasiten in Spinnenkokons.
Rollards Faszination für Spinnen war geweckt. Als Jahrgangsbeste bekam sie ein Stipendium für eine Doktorarbeit. Ihre Dissertation beschäftigte sich mit dem Einfluss von Parasiten, speziell Hautflüglern wie Bienen oder Wespen, die ihre Eier in Spinnenkokons ablegen, auf die Populationen von zwei Spinnengruppen. 1987 hatte sie ihr Diplom in der Tasche – und war arbeitslos. Anderthalb Jahre später wurde eine Stelle als Dozentin und Forscherin am staatlichen Naturkundemuseum in Paris frei. Der Fokus: Die Pflege der historischen Spinnensammlung.

Allein unter Männern
Das Feld der Arachnologie war damals, wie die meisten wissenschaftlichen Fachgebiete, vor allem männlich besetzt. „Als es darum ging, wer die Stelle in Paris bekommt, stand außer mir noch ein anderer Herr zur Auswahl, ein Pariser Kandidat mit zehn Jahren mehr Erfahrung als ich, der bereits im Museum arbeitete”, erzählt sie. Seine Spezialisierung: Skorpione. Als klar wurde, dass Rollard mit ihrer Spinnenexpertise den Platz bekommen würde, stellten sich die lokalen Gewerkschaften für Wissenschaftler*innen hinter den Mitbewerber und zweifelten das Ergebnis an.
„Hinter meinem Rücken redete man darüber, wie seltsam es war, dass ich die Stelle bekam. Man mutmaßte, dass ich mit jemandem geschlafen hatte, um so weit zu kommen“, erzählt sie mit belegter Stimme. Dass eine junge Frau besser für den Posten geeignet sein könnte als ein älterer Mann schien undenkbar. Rollard bekam damals die Stelle, doch auch nach 37 Jahren entrüstet sie der Vorwurf von damals. „Es ist wichtig, dass die jüngeren Generationen von Wissenschaftlerinnen so etwas nicht mehr durchgehen lassen“, sagt die Feministin, die lange eine der wenigen Frauen auf dem Gebiet der Arachnologie war.
In der Association française d’Arachnologie (AsFrA), dem nationalen Spinnenverband, in dem Rollard im Verwaltungsrat vertreten ist, liegt der Anteil von Frauen bei etwa 40 Prozent. Die Arachnologie habe sich ihrem Eindruck nach stark feminisiert. Dennoch erinnert sie sich an „ein paar individuelle Verhaltensweisen“ von männlichen Kollegen, die sie als junge Frau herabsetzen und ihre Kompetenz anzweifelten.
Heute blickt sie auf eine erfolgreiche Karriere zurück: Sie pflegte eine der größten Spinnensammlungen der Welt des Museums, die mit etwa 26.000 verschiedenen Arten den Status des nationalen Kulturerbes trägt, beteiligte sich an Studienprogrammen in Frankreich, den französischen Überseegebieten und afrikanischen Ländern, schrieb Bücher und hielt Vorträge. Ihre Leidenschaft für Spinnen brachte ihr schließlich den Spitznamen „Madame Spinne” ein. 2011 wurde sie zur Ritterin der Ehrenlegion – ein französischer Verdienstorden für besondere Leistungen – ausgezeichnet.

Die Spinnenbotschafterin
„Das Teilen von Wissen ist unsere Pflicht“, ist sie überzeugt. Wenn Forscher*innen nur unter sich blieben und ihre Ergebnisse nicht verständlich mit der Öffentlichkeit teilten, brächte das Forschen nicht viel. Regelmäßig spricht Rollard deshalb mit Journalist*innen, schreibt Bücher und hält Vorträge an Schulen. Ihre Lebensaufgabe: So viele Menschen wie möglich über Spinnen aufzuklären.
Seit knapp 30 Jahren empfängt sie in ihrem Büro außerdem Menschen mit einer Phobie oder Angst vor Spinnen zu einer Sensibilisierungs-Session. Es seien bis zu 40 Personen im Jahr, manche kämen sogar mehrmals. Arachnophobie, die Angst vor Spinnen oder anderen Spinnentieren, scheint eine der häufigsten spezifischen Phobien in Frankreich zu sein. Doch nur etwa zehn Prozent der Menschen, die Angst vor den Achtbeinern haben, haben auch eine Phobie.
Ihre Geheimwaffe gegen die Angst ist Wissen. „Spinnen leben schon viel länger auf der Welt als wir Menschen. Wer sind wir, dass wir ihnen schaden wollen?“, fragt sie. Die ersten Spinnentiere sollen vor etwa 300 Millionen Jahren gelebt haben, lange vor den Dinosauriern. Heute gibt es knapp 53.000 identifizierte Spinnenarten. Spinnen haben immer acht Beine, aber können sehr unterschiedlich aussehen. Manche haben acht Augen, andere kein einziges. Aber egal wie viele Augen sie haben, Spinnen nehmen uns gar nicht deutlich wahr, weil sie nicht wissen was ein Mensch ist.
Die meisten Spinnen, die man in Deutschland oder Frankreich antrifft, sind in der Regel maximal fünf Millimeter groß. Gift setzten sie hauptsächlich ein, um ihre Beute zu lähmen. Das bedeutet, dass ein Biss bei einem Menschen nicht unbedingt Gift enthält. Außerdem beiße eine Spinne einen Menschen nur, wenn es absolut notwendig ist, und nur, um sich zu verteidigen.
Spinnen haben auch positive Attribute
„Die Angst vor Spinnen ist ein relativ neues und vor allem westliches Phänomen“, berichtet Rollard. Früher hätten die Menschen vor allem Angst vor Tieren gehabt, die für sie tatsächlich gefährlich waren, wie Ratten oder Mücken, die teilweise tödliche Krankheiten übertragen konnten. In vielen Teilen der Welt sei die Angst vor Spinnen eher unüblich, die Tiere stünden im Gegenteil sogar für etwas Positives, wie in manchen afrikanischen oder asiatischen Ländern.
In Westafrika würden Vogelspinnen oft als weise gelten, in der Karibik oder bei den Aborigines in Australien werde ihnen Geduld, Fleiß und Kreativität zugeschrieben. Das positive Image käme also von Ländern und Völkern, die in der Natur leben und nicht so stark davon abgekoppelt wie in den meisten Industrienationen. Interessant ist, dass sich auch in diesen Ländern aktuell bei jüngeren Menschen ein negatives Image der Achtbeiner entwickelt, das unter anderem durch soziale Netzwerke und Horrorfilme vermittelt wird und das es vorher nicht gab.
Als sich Spinnen-Expertin Rollard den Horrorfilm „Vermines“anschaute, von dem ihr ein Medium berichtet hatte, musste sie immer wieder lachen. Über Spinnen, die Menschen überfallen und plötzlich überall sind, im Mund, unter der Haut, sich zu Tausenden vermehren, viel zu groß werden und Menschen mit einem Biss töten. „Das war alles so falsch, so viele Klischees!“ Die Spinnenangst sei vor allem eine individuelle Angst. „Deshalb sollte sich jemand mit ausgeprägter Spinnenangst fragen: Wovor genau habe ich Angst?“
Statistisch gesehen sagen doppelt so viele Frauen wie Männer, dass sie Angst vor Spinnen haben. „Das liegt aber eher daran, dass Frauen ihre Angst zugeben. Tatsächlich kommen zu meinen Aufklärungssitzungen auch immer mehr Männer“, so Rollard. Die Angst vor Spinnen sei nicht genetisch bedingt, lasse sich aber manchmal erlernen, wenn man das Verhalten der Eltern oder anderer Verwandter beobachte.
2025 ist das letzte Jahr der Dozentin und Forscherin an der historischen Pariser Universität – im September geht sie in Rente. „Ich habe schon angefangen, meine Sachen zu räumen“, sagt sie mit Wehmut. Eigentlich hätte sie schon im Februar gehen können, beantragte aber eine Verlängerung, da sie noch Kurse gibt. Eine Nachfolgerin steht auch schon bereit: Es ist wieder eine junge Frau mit einem großen Interesse für die haarigen Achtbeiner.

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