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Irische Dragqueens
Ein Liebesbrief an die Frau

21. Oktober 2020 | Von Mareike Graepel
Der Ire Rory O’Neill alias Panti Bliss gehört zu den bekanntesten Dragqueens weltweit. Foto: Conor Horgan

Panti Bliss im goldenen Kleid und mit noch goldeneren Haaren ist wie eine Torte voller Funken sprühender Kerzen: Sie zieht alle Blicke auf sich. Die „Königin von Irland“ heißt eigentlich Rory O’Neill, ist 51 Jahre alt und versucht, homophobe Vorurteile und Vorwürfe, frauenfeindlich zu sein, einfach wegzulächeln.

Von Mareike Graepel, Dublin  

Ein halbvoller Milchkarton, den ihm eine Gruppe junger Männer aus einem fahrenden Auto an einer Fußgängerampel an den Kopf warf, hat Rory O’Neill erst kürzlich wieder ins Grübeln gebracht. „Was genau habe ich in dem Moment getan und wie bin ich, dass ich denen unbewusst verraten habe, dass ich schwul bin? Dass die dachten, sie könnten mich als ‚Schwuchtel‘ anschreien und bewerfen?“

Der Ire ist fast zwei Meter groß, hat ein breites Kreuz, markante Gesichtszüge und wirkt eher wie ein Superheld in Zivil als es sein glamouröses Alter Ego mit den rotesten Lippen und den längsten Wimpern tut. Und doch war es seine Dragqueen-Persona „Panti“ – die Kurzform für „Miss Pandora Panti Bliss“ – die zur Frontfrau der Referendum-Kampagne wurde, als die gleichgeschlechtliche Ehe in Irland zur Debatte stand. Und es war „Panti“, die bei Bekanntgabe der überwältigenden Mehrheit als Erste einem lesbischen Paar gratulierte.

Es war auch „Panti Bliss“, die mit klaren Worten zur homophoben Haltung mehrerer öffentlich-rechtlicher Journalist*innen einen 2014 als „Pantigate“ bekannt gewordenen Fall ins Rollen gebracht hat und damit sogar das Europäische Parlament beschäftigte: Der Fernsehsender RTÉ hatte Pantis Kritik an der Homophobie in den irischen Medien flugs aus den Online-Archiven gelöscht und den von der Dragqueen erwähnten Journalist*innen 85.000 Euro Schmerzensgeld gezahlt. In Brüssel nannte der Abgeordnete Paul Murphy das „einen echten Angriff auf die Rede- und Pressefreiheit“ in Irland.

Es war nicht Rory O’Neills, sondern Panti Bliss‘ Video, das im Nachgang mit ihrer gefeierten „Noble Call“-Rede, zu Deutsch „Edler Aufruf“, im Abbey Theatre in Dublin eine Million Mal auf YouTube angeklickt wurde. Es war Panti, die für diese Rede von dem britischen Drag-Star RuPaul, dem Schauspieler Graham Norton, der Sängerin Madonna und den Pet Shop Boys gefeiert wurde. T-Shirts mit dem „I’m on Team Panti“- Aufdruck wurden für eine Benefiz-Aktion verkauft – mehr als 10.000 Euro kamen so zusammen.

Ist Rory Panti? Oder ist Panti Rory? „Das ist schwer zu beantworten“, sagt der Mann, der in Frauenkleidern berühmt ist, auf High Heels eine – derzeit wegen der Pandemie geschlossene – Schwulen-Bar mit eigenem Pale-Ale-Bier betreibt und dort auftritt, mit wallenden blonden Perücken für die Gleichberechtigung aller sexuellen Orientierungen kämpft, im Wespentaillen-Korsett eine Radio-Show moderiert, 16 Jahre lang den „Alternative Miss Ireland“-Schönheitswettbewerb präsentierte und regelmäßig die Dublin Pride Feierlichkeiten ausrichtet.

Seine Masterarbeit am Art College in Dún Laoghaire im County Dublin war das Konzept einer Drag Show – inklusive eines Bühnenset-Modells, mit Illustrationen, Plakaten, Projektionen. 22 Jahre ist das her. Für die Präsentation zog Rory sich zum ersten Mal als Panti Bliss an: „Die Show war schrecklich albern.“ Aber ein Betreiber einer der damals oft noch in Kellern versteckten Schwulen-Bars in Dublin sah die Show und bot ihm pro Abend 50 Irische Pfund an. Ob er Lust habe, als Panti aufgebrezelt in seinem Nightclub zum „heart and life of the party“ zu werden und die Leute zu unterhalten.

„Seit 1998 bin ich auch Panti. Ihre Geschichte ist meine und meine Geschichte ist ihre, aber Panti nimmt alles mit viel mehr Humor. Im Grunde mache ich da keinen Unterschied. Mit einer Ausnahme: Es juckt mich nicht, wenn mich jemand ohne Kostüm Panti nennt, aber wenn ich drei Stunden hart daran gearbeitet habe, zu Panti zu werden, ärgere ich mich, wenn jemand ‚Rory‘ zu mir sagt.“ Der Aufwand sei zu groß, um dafür nicht auch die Akzeptanz und den Respekt vor der Figur zu verlangen. „Mir macht die Verwandlung immer noch Spaß, aber mit den Jahren wird das anstrengender. Sobald ich Panti bin, gibt es kein ‚on stage‘ oder ‚off stage‘ mehr – dann mache ich jeden Schritt, als wäre ich auf der Bühne.“

Rory O’Neill schlüpft regelmäßig in die Rolle der Dragqueen, nicht zuletzt für das irische Fernsehen.

Als sich die britische Ex-Olympia-Schwimmerin Sharron Davies auf Twitter über Dragqueens als Frauen-Parodien ereiferte, mussten Panti Bliss und ihre Kolleg*innen sich mit der Diskussion, ob Dragqueens sich über Frauen lustig machen, auseinandersetzen. Ein skurriles Thema, findet der 51-Jährige. „Ich bin ein schwuler Mann und habe viel Glück gehabt, dass ich mich in meiner Sexualität wohl fühle. Ich tue nicht so, als ob ich eine Frau wäre, aber ich genieße es, mich wie eine Frau zu kleiden. Das ist doch das Beste an dem ganzen Drag-Konzept: Das Geschlecht spielt dabei keine Rolle.“ Es gibt Frauen, die als Dragkings auftreten. Und es gibt Frauen, die Dragqueens sind – sie werden Bio oder Faux Queens genannt.

„Die meisten queeren Kinder haben eine entsetzlich schwierige Jugend – früher noch mehr als heute – aber leicht und unkompliziert ist es immer noch nicht. Ich habe mich immer wohler in der Gegenwart von Frauen gefühlt als in der Nähe von heterosexuellen Männern.“ Seit der Erfindung von Panti Bliss feiert Rory O’Neill in „drag“ – was schon zu Shakespeare-Zeiten „dressed as a girl“ bedeutet haben soll, aber auch von dem englischen Wort für „Schleppe“ stammen kann – die Frau an sich. „Ich nehme als Panti das Bild einer Frau und mache sie noch größer, noch weiblicher, noch schöner, noch stärker.“

Philip Keogh alias Victoria Secret.

Mit dieser Meinung ist Rory O’Neill nicht allein. Phillip Keogh, in Irland besser bekannt als „Victoria Secret“, sagt: „Unser Leben als Dragqueens ist ein Liebesbrief an die Frauen.“ Der 36-Jährige ist auf eine reine Jungenschule gegangen, wollte aber seit jeher lieber Frauen um sich haben, da „gehörte ich immer eher dazu“. Mit 19 hat er sich zum ersten Mal von einer Freundin schminken lassen und sagt: „Ich finde es zwar bis heute schwierig, mich gut zu schminken, aber es gehört zu mir und meinem Job dazu.“ Genau wie das BH-Tragen – eine tägliche Herausforderung. „Ich finde, jeder Mann sollte das mal einen Tag gemacht haben, um zu lernen, was das bedeutet.“

Dragqueens können vieles besser nachvollziehen, was Frauen beschäftigt. „Ich weiß jetzt, warum Frauen nicht mal eben in High Heels ein paar hundert Meter über Kopfsteinpflaster zum Diskoeingang laufen können. Weil es Panti genauso geht“, erklärt Rory O’Neill. Von dem aufwendigen Styling ganz zu schweigen. „Panti ist keine Lüge, sie ist eine ‚fun version‘ meiner selbst, die Dinge darf, die von der Gesellschaft bei Männern sonst abgelehnt werden: Panti darf pink tragen und zickig sein.“ Dass Panti das „darf“ und Rory nicht, sage mehr über die Gesellschaft aus als über die Dragqueen.

Kleiner Ort im Westen Irlands feiert seine Königin

Rory O’Neill wohnt in Dublin, hat in Asien und Großbritannien gelebt, und ist in Irland zu einer Zeit aufgewachsen, in der es kaum sichtbare Homosexualität gab. „Gemobbt wurde ich wenig, vielleicht, weil ich so groß und stark wirke.“ Er komme aus einem kleinen Kaff im Westen Irlands. Dort gab es keine Rollenvorbilder, keine anderen schwulen Männer. „Ich hätte mir ja nicht mal etwas abgucken können, wenn ich gewollt hätte. Das ist nichts, dass ich gelernt habe“, sagt er, legt seine großen Hände grazil auf den Tisch und blickt amüsiert auf seine übereinandergeschlagenen Beine.

„Wenn ich Rory bin, sehen meine Bewegungen feminin aus. Ich kann nicht anders. Und das wurde und wird von manchen Menschen als Schwäche ausgelegt. Wenn ich Panti bin, dann darf sie das alles, ohne dass das jemand ungewöhnlich fände.“ Zu einer weiblichen Figur zu werden macht den berühmtesten Drag-Künstler Irlands souveräner und unangreifbar. „Panti schmeißt eben niemand eine Milchtüte an den Kopf. Als Panti fühle ich mich sicherer als als Rory. Sie wird von Passanten und Publikum gefeiert.“ Auch in Rory O’Neills Heimatort.

Für die TV-Doku „The Queen of Ireland“ lässt er sich in den ländlichen Westen Irlands begleiten, beim Verwandeln in eine Frau, beim Durch-die-Straßen-Gehen, flankiert von seinem Vater, dem örtlichen Tierarzt, und seiner Mutter, der Hausfrau. Seine Eltern halten schützend den Schirm über die Perücke und nehmen Pantis Hand, als der Weg für die hohen Absätze zu uneben wird. Als Panti die Bühne in dem Dorf Ballinrobe betritt, und fast alle der nicht mal 4.000 Einwohner*innen auf den Stühlen im großen Festzelt sitzen, fängt die Kamera ein, wie nervös die Dragqueen für einen Moment doch ist.

Rory O’Neill erinnert sich: „Das war eine große Nummer für mich. Da saßen ja alle Menschen aus meiner Kindheit und Jugend, meine Grundschullehrer, unsere Nachbarn, alle.“ Der Film zeigt in Großaufnahme, dass auch die Zuschauer*innen verunsichert sind – bis Panti mit ihrer lippenstiftroten großen Klappe ausholt und ebenso deutlich austeilt wie sie sich emotional nackig macht. Ballinrobe feiert seine Königin, seine „Queen“. Aber der Applaus gilt nicht nur der Dragqueen, sondern auch den Ir*innen selbst.

„Die Menschen beginnen zu verstehen, dass sie, wenn sie jemandem mögen, das geschlechtsunabhängig und losgelöst von den sexuellen Interessen tun sollten“, meint Rory O’Neill. Bestes Beispiel für mehr Akzeptanz: Der Besuch von Jugendlichen aus Ballinrobe vor der „Pantibar“ bei einer Dublin-Pride-Parade im letzten Jahr. „Ich dachte, die wären nur zu zweit, als die beiden Jungs da standen – aber die hatten eine ganze Busladung voller LGBTQI+-Jugendlicher aus meinem Dorf im Schlepptau. Jetzt gibt es sogar eine Gruppe, die sich regelmäßig in der Stadtbücherei dort trifft. Unfassbar schön.“

Der Austausch und das Miteinander muss derzeit allerdings auch in Irland pausieren, wegen Covid-19 sind alle Bars und Gaststätten, die keine Speisen servieren, nach wie vor geschlossen. Alle Dragqueens in Irland müssen derzeit wegen der Pandemie neue Wege gehen – treten digital auf und organisieren online alternative Eurovision-Contests. Phillip Keogh alias „Victoria Secret“ organisiert „Dragged Up“, eine Eventreihe, bei der Drag-Stars auftreten. Er sagt: „Eine Dragqueen zu sein ist sehr harte Arbeit, die oft unterschätzt wird. Wir sind unsere eigenen Stylistinnen, Buchhalterinnen, Managerinnen, Moderatorinnen, Autorinnen. Und derzeit sind wir alle verunsichert, wie es für unsere Branche weitergeht.“

In der vor Corona gedrehten Dokumentation „Dragumentary“ von Regisseurin Sadhbh Murphy wird die irische Drag-Szene noch als lebhaft beschrieben und als voller Ethos und Talent. „Victoria Secret“ seufzt: „Daran ändert sich grundsätzlich auch nichts im Lockdown, aber wir müssen eben alle neue Wege finden. Drag ist natürlich untrennbar mit einer Performance verbunden und kann nicht für immer ohne eine Bühne aufrechterhalten werden – und sobald es wieder geht, wollen wir wieder auftreten!

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Von Mareike Graepel, Haltern

Mareike Graepel lebt in Haltern und Irland. Sie ist unser Head of Partnerships und kümmert sich um Kooperationen mit (Medien-)Partner*innen. Sie schreibt seit ihrer Jugend für lokale, regionale und überregionale Tageszeitungen und Magazine – zunächst als freie Mitarbeiterin, dann als Redakteurin und seit 2017 selbstständig als Journalistin und Übersetzerin. Ihre Themen drehen sich meist um Gesellschaft, Umwelt, Familie, Gesundheit und Kultur.

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