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„Indigene Frauen erleben viele Formen von Gewalt“
Von Feminismus, Identität und Poesie

6. März 2019 | Von Sophia Boddenberg
Daniela Catrileo setzt sich mit ihrer Poesie für das indigene Volk der Mapuche ein. Fotos: Sophia Boddenberg

Daniela Catrileo ist Mapuche, Poetin, Philosophin und Feministin. Die Befreiung der Frauen hängt für sie nicht nur mit dem Ende des Patriarchats, sondern mit der Befreiung ihres Volkes zusammen.

Von Sophia Boddenberg, Santiago de Chile

„Ich bin im Exil, Analphabetin, irre umher, Borderline. Ich will Gold sein, Indianerin, dunkelhäutig, eine Indianerin, die euch meine Geschichte vergessen lässt…“, sagt Daniela Catrileo mit lauter und fester Stimme in einem vollbesetzten Saal. Sie trägt bei einer Performance, zusammen mit anderen Künstler*innen, eines ihrer Gedichte im Museum der Schönen Künste in Santiago de Chile vor. Daniela Catrileo ist 31 Jahre alt. In dem Gedicht, das sie heute präsentiert, geht es um die Suche nach ihrer Identität.

Sie gehört zum indigenen Volk der Mapuche, wurde aber in Chiles Hauptstadt Santiago geboren, weil ihr Vater als Kind mit ihren Großeltern in die Stadt zog, um der Armut auf dem Land zu entfliehen. Schätzungen zufolge machen die Mapuche etwa zehn Prozent der chilenischen Gesamtbevölkerung aus, sie sind das größte indigene Volk des Landes. Viele wohnen in traditionellen Gemeinden im Süden Chiles im sogenannten „Wallmapu“ – so heißt das Territorium in ihrer Sprache Mapudungun.

Doch dessen Größe wurde im Laufe der Geschichte von ursprünglich zehn Millionen Hektar auf 500.000 Hektar reduziert. Der Grund: Der chilenische Staat versuchte, die Bräuche, die Sozialstruktur und Rechtsformen aufzulösen. Denn: Chile ist das einzige Land Lateinamerikas, das die indigenen Völker in seiner Verfassung nicht anerkennt. Mehr als die Hälfte der Mapuche lebt heute in der Hauptstadt Santiago, viele kulturell entwurzelt.

Catrileos Vater ist Mapuche, ihre Mutter Chilenin. In ihrer Kindheit fuhr sie in den Sommerferien mit ihren Eltern immer nach „Wallmapu“. Mapudungun hat die Familie ihr nicht beigebracht. Zu groß waren die Scham und die Angst vor Diskriminierung.  „Für uns, die hier in der Stadt geboren wurden, gab es einen Bruch. Wir haben nicht die traditionelle Weltanschauung erlernt. Das holen wir als Erwachsene nach“, sagt sie. So lernt Catrileo jetzt die Sprache der Mapuche und lässt dies in ihre Gedichte einfließen.

Sie hat lange dunkle Haare, trägt große Ohrringe, roten Lippenstift, ein schwarzes, lockeres Kleid und Sneakers. In der traditionellen Kleidung ihres Volkes würde sie sich verkleidet fühlen, sagt sie. Ihr Nachname Catrileo bedeutet getrennter oder verletzter Fluss. Sie hat ihn sich auf ihre Unterarme tätowieren lassen. Ihre Suche nach ihrer Identität führte sie auch zum Schreiben und zur Poesie. Und so heißt auch ihr erstes Buch, das 2013 erschien: „Río Herido“.

Poesie als Widerstand

Poesie ist für Catrileo eine Form von politischem Widerstand. „Für mich ist die Poesie antikapitalistisch. Es gibt nur wenige Menschen, die Gedichte schreiben, um Geld zu verdienen. Ich finde es schön, gegen den Strom zu schwimmen. Auch wenn es nicht das Interesse der Massen erweckt – mich erfüllt es.“ Während es mit Elicura Chihuailaf und Leonel Lienlaf durchaus bekannte Dichter aus dem Volk der Mapuche gibt, die über ihre Kultur und die Beziehung zur Natur schreiben, schämten sich die Mapuche in der Stadt lange Zeit für das, was sie sind. Erst seit einigen Jahren gibt es eine neue poetische Strömung. Eine der ersten Dichterinnen dieser Art in Santiago ist Eliana Pulquillanca, die Daniela Catrileo als Vorbild bezeichnet. Die 55-Jährige wurde im Süden Chiles in einer traditionellen indigenen Gemeinde geboren.

Eliana Pulquillanca hat als Haushaltshilfe angefangen – heute schreibt sie Gedichte.

Mit nur 16 Jahren verließ sie ihre Heimat, um in der Stadt Geld zu verdienen. Sie war eine von vielen jungen indigenen Frauen, die in die Hauptstadt Santiago zogen und dort als Haushaltshilfen in teilweise sklavenähnlichen Verhältnissen in den Häusern reicher Familien arbeiteten. Pulquillanca schrieb ihre Gedanken und Gefühle stets in einen kleinen Block. Sandra, eine Verwandte ihrer Hausherren, tippte ihre Gedichte eines Tages an einem Computer ab und ermutigte sie, diese binden zu lassen.

Nachdem sie zehn Jahre bei der Familie als Angestellte gearbeitet hatte, konnte sie sich ein kleines Haus im Stadtviertel La Pintana in der Peripherie von Santiago leisten. Sie wollte ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Tagsüber arbeitete sie weiter als Haushaltshilfe, abends kümmerte sie sich um ihre Tochter. Es war eine harte Zeit, sagt sie rückblickend. Trotzdem gewann sie 2003 einen Schreibwettbewerb in einem Kulturzentrum, ein Jahr später veröffentlichte sie ihr erstes Buch „Wurzeln des Magnolienbaums“. 2009 folgte das zweite mit dem Titel „Blau Grau“.

Der Stolz, Mapuche zu sein

Eines ihrer Gedichte über ihren Abschied von der Heimat beginnt so: „Die Winterstiefel, eine Wolltasche, von der Station Mariquina brach sie eines Nachmittags auf. Im Morgengrauen, Wagon 1981, erschien die große Stadt. Weit weg waren die Länder ihres Geburtsorts, der liebevolle Fluss, die Vulkane mit weißen Hüten, wo die Geister nisten, die Seen mit sanften Gewässern, dort im grünen Süden.“

Pulquillanca wurde bekannt, weil sie eine der ersten war, die in der Literatur das Leben der Mapuche in der Stadt verarbeitete. Die Gefühle von Vertreibung, Heimweh, Gewalt, Entwurzelung. Sie erinnert sich noch genau an den Tag, an dem sie Daniela Catrileo kennenlernte: „Sie war damals noch Studentin und kam zu einer meiner Lesungen. Sie hat mich angesprochen und gesagt: Wie schön sind deine Gedichte! Ich bin auch Mapuche, aber bei mir zu Hause spricht niemand darüber.“ Danach ging Catrileo immer öfter zu kulturellen Veranstaltungen und fing an, ihre eigenen Gedichte vorzutragen. Beide Frauen haben gemeinsam, dass sie über ihre Zugehörigkeit zu ihrem Volk schreiben. Pulquillancas Gedichte sind eher nostalgisch und von Kindheitserinnerungen geprägt, während Catrileo über den Schmerz schreibt, dass sie sich nicht zu ihrer Heimat bekennen durfte. 

Heute arbeitet sie als Philosophie-Lehrerin und Schriftstellerin. Während ihres Studiums begann sie, sich mit Feminismus, postkolonialer Theorie und Subalternität auseinanderzusetzen; ein Begriff, der vom italienischen marxistischen Philosophen Antonio Gramsci geprägt wurde. Er definiert die Subalternen als diejenigen, die keiner hegemonialen Klasse angehören. Für die Inderin Gayatri Spivak sind die weiblichen Subalternen von einer doppelten Marginalisierung gekennzeichnet – ökonomisch und geschlechtlich. Autor*innen wie sie haben Catrileo stark in ihrem Denken, Schreiben und Handeln beeinflusst: „Ich habe gespürt, dass sie unserem Volk viel näher sind als westliche Philosophen, weil sie die Welt aus der Sichtweise der kolonialisierten Völker betrachten. Sie haben mir auch geholfen, meine Identität zu hinterfragen. Mich im Hin und Her zu positionieren, im Graubereich, nicht als etwas Ganzes.“

Diskriminierung auf vielen Ebenen

Sie fühlt sich nicht ganz als Mapuche, aber auch nicht als Chilenin. Deshalb bezeichnet sie sich als „Champurria“ – eine Vermischung von Identitäten, die mehrere Kategorien umfasst. „Wir haben indigenes Blut, Arbeiterblut, Bauernblut. Wir sind durchkreuzt von verschiedenen Identitäten und von Körpern, die in der Geschichte unterdrückt worden sind“, erklärt sie. Indigene Frauen erlebten Catrileo zufolge eine andere Realität als weiße privilegierte Frauen mit europäischen Wurzeln, weil sie nicht nur unter dem Patriarchat, also der Machtausü­­­bung der Männer, litten, sondern auch unter Rassismus, kolonialen Abhängigkeiten und kapitalistischer Ausbeutung durch transnationale Unternehmen, die ihren Lebensraum zerstören.

Daniela Catrileo ist Vorbild für viele Feministinnen in Chile.

„Mapuche zu sein und Frau zu sein, das sind für mich politische Entscheidungen. Das hat damit zu tun, sich für eine Idee einzusetzen und dafür zu kämpfen. Die Stimme zu erheben, für die, die nie eine Stimme hatten. Die Mapuche-Frauen konnten nie ihre Stimme erheben, niemand hat ihnen zugehört und sie wurden durch verschiedene Arten von Gewalt unterdrückt. Aber unser Volk ist nicht tot. Wir sind ein Volk mit Jahrhunderten von Kultur.“ Seit sie angefangen hat, sich mit ihrer Herkunft zu beschäftigen, sei auch ihr Vater wieder stolz auf seine Wurzeln, für die er sich früher geschämt hatte.

Die 31-Jährige ist Teil eines feministischen Kollektivs von Mapuche-Frauen in Santiago, die sich so ähnlich fühlen wie sie. Das Kollektiv heißt „Zwischen zwei Flüssen“. Catrileo und ihr Kollektiv stehen für einen dekolonialen und intersektionalen Feminismus, der auf verschiedene Unterdrückungsformen wie Rassismus, Sexismus und ökonomische Ausbeutung antwortet. Sie organisieren regelmäßig kulturelle Veranstaltungen, Diskussionsrunden und nehmen an Protestmärschen teil.

Viele indigene Frauen betrachten den Feminismus als ein westliches Konzept weißer, gut gestellter Frauen, das nichts mit ihrer Realität zu tun hat. Die Grundlage des dekolonialen Feminismus ist deshalb, dass die Befreiung der Frauen nur mit der Befreiung der unterdrückten Völker einhergehen kann. Deshalb sagt die 31-Jährige zum Abschied: „Für mich heißt Feminismus zuallererst, für mein Volk zu kämpfen. Ich werde mich immer meinem Vater näher fühlen, der Mapuche ist – auch wenn er vielleicht manchmal ein Macho ist – als einer privilegierten ausländischen Feministin, die hierher kommt und meint, sie müsste uns retten.“

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Von Sophia Boddenberg, Santiago de Chile

Sophia Boddenberg berichtet als freie Journalistin für Radio, Online und Print aus Chile und beschäftigt sich mit Themen rund um Frauenrechte und soziale und politische Bewegungen auf dem lateinamerikanischen Kontinent. Sie hat Journalistik studiert und ein Masterstudium in Sozial- und Politikwissenschaften Lateinamerikas in Santiago de Chile absolviert. Mehr unter: http://sophiaboddenberg.com.

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