Lerne inspirierende Frauen aus der ganzen Welt kennen.

Lerne inspirierende Frauen weltweit kennen.

Ferien vor der großen Krise
Coronavirus in Russland

31. März 2020 | Von Jasper Steinlein
Ansicht von der Moskauer Staatsuniversität, Bauart im typischen sowjetischen Zuckerbäckerstil. Foto: Unsplash

Während Oligarch*innen Beatmungsgeräte horten, schickt Präsident Putin das Land in den Urlaub: Alles deutet darauf hin, dass Russland in der Corona-Pandemie das Schlimmste erst noch bevorsteht. Doch Katastrophenangst ist unter der russischen Bevölkerung bislang kaum zu spüren.

Von Jasper Steinlein, Hamburg

Schon wieder eine Krise? Die meisten leidgeprüften Russ*innen hielten die Nachricht eines grassierenden Lungenvirus, das ganze Staaten lahmlegt, zunächst für Alarmismus. „Meine Großmutter glaubt erst seit Kurzem an das Virus, mein Vater noch immer nicht“, schrieb mir vergangene Woche eine Moskauer Freundin. Da hatten Russlands Staatsmedien im In- und Ausland schon so viel Widersprüchliches über das Coronavirus verbreitet, dass viele es schlicht für eine Erfindung hielten – oder für etwas, das nur den ungeliebten „Westen“ treffen könne.

Der unverwechselbare russische Humor, der die 145 Millionen Menschen im größten Flächenstaat der Erde schon durch die sowjetische Mangelwirtschaft, die turbulenten 90er Jahre, Sanktionen und Rubelverfall getragen hat, blühte auf: „Unheimliche Zeiten sind das: Die Leute müssen die Hände waschen, zu Hause kochen und Zeit mit ihren Kindern verbringen… Es kommt noch soweit, dass Bücher gelesen werden!“, lautete eine populäre Botschaft in den sozialen Netzwerken. Im staatlichen Fernsehkanal „M24“ trat sogar ein Mensch mit Pappmaché-Schwellkopf als Coronavirus verkleidet auf und gab ein Interview: Es sei am 21. Februar aus Italien eingereist und wolle niemanden töten, aber so sei eben seine Natur.

Ein Schutzgebet des Patriarchen soll helfen

Oppositionelle wie der Bürgeraktivist Aleksej Nawalny fanden das nicht witzig – und auch den Autoritäten verging zusehends das Lachen: Erst wurde die Grenze zu China geschlossen, dann aus stark betroffenen Weltgegenden Eingereiste zur zweiwöchigen Selbstquarantäne aufgefordert. Während Arbeiter am Moskauer Stadtrand derzeit noch eine Schnellbau-Notklinik nach chinesischem Vorbild hochziehen, segnete Patriarch Kirill, das Oberhaupt der russischen Orthodoxie, ein besonderes Schutzgebet vor dem Coronavirus ab – zögerte aber bis zum letzten Moment, die Gläubigen zum Zuhausebleiben aufzufordern.

Und einmal mehr bringt die Krise himmelschreiende soziale Unterschiede zutage: Während Arbeiter*innen aus den bitterarmen zentralasiatischen Republiken an den Moskauer Flughäfen festhingen und weder einreisen noch zurückfliegen konnten, kauften Oligarch*innen den maroden Kliniken Beatmungsgeräte für den Eigenbedarf weg.

Offiziell ist die Zahl der Infizierten in Russland bislang verhältnismäßig niedrig. Doch dass sämtliche Corona-Tests anfangs zur Auswertung in ein einziges Labor in Nowosibirsk gebracht werden mussten, half bei der zuverlässigen Feststellung der Fallzahlen ebensowenig wie der Umstand, dass die ersten an Covid-19 Erkrankten und Gestorbenen zunächst als Fälle einer schwer verlaufenen Lungenentzündung galten.

Seit Präsident Wladimir Putin im apokalyptisch anmutenden Schutzanzug eine Klinik besuchte und sich zwei Tage später mit einer Ansprache an das Volk wandte, ist endgültig Schluss mit lustig. Russland könne sich vor der Gefahr nicht abschotten, stellte Putin klar. Doch der Krisenplan des Kreml für die Pandemie klang eher wie ein Hilfsprogramm für die heimische Wirtschaft: Eine ganze arbeitsfreie Woche bei voller Lohnfortzahlung, die Erhöhung des Arbeitslosengelds auf den Mindestlohn und eine sechsmonatige Stundung aller Zahlungsfälligkeiten für kleine Unternehmen, die nun in finanzieller Not sind.

Corona-Ferien am Schwarzen Meer

Das mit der arbeitsfreien Woche fassten viele Russ*innen prompt als „Ferien“ auf und machten sich auf den Weg: Sie fuhren mit Kind und Kegel auf die Datsche oder buchten Urlaubsflüge in den Badeort Sotschi, wo bereits freundliches Frühlingswetter herrscht. Die Regierung der Region am Schwarzen Meer bekam es angesichts des Ansturms mit der Angst zu tun und erließ eilig Einschränkungen: Nun sind Einkaufszentren, Parks und Restaurants geschlossen, Hotels dürfen keine Reservierungen mehr annehmen. Der sonst eifrig um Tourist*innen werbende Bürgermeister von Sotschi, Anatolij Pachomow, appellierte gar an die russische Bevölkerung, seine Stadt zu verschonen.

Derweil war Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin bereits vorgeprescht und hatte sämtliche Freizeitveranstaltungen pauschal abgesagt sowie die Schließung von Gastronomiebetrieben, Läden und Dienstleistungszentren verkündet. Um zu verhindern, dass die Menschen dennoch die Straßen unsicher machen, gelten die Verkehrstickets für Schüler*innen, Student*innen und Rentner*innen vorerst nicht. Trotzdem waren in Moskau Spielplätze, Spazierwege rund um die sogenannten „Sauberen Teiche“ und die städtischen Parkanlagen bestens besucht.

Von Abstandhalten keine Spur – bis Sobjanin jetzt die Notbremse zog und eine harte Ausgangssperre verkündete. Nun dürfen die Moskauer*innen nur noch zum Einkaufen, für Arztbesuche oder zum Gassi gehen mit dem Hund vor die Tür. Quarantäne-Querulant*innen werden mit Gesichtserkennungskameras im öffentlichen Raum aufgespürt. Die Sotschi-Urlauber*innen werden übrigens mit Charterflügen zurück in die Heimat gebracht – und müssen vorerst Ferien im Wohnzimmer machen.

image/svg+xml

Von Jasper Steinlein, Hamburg

Jasper Steinlein wohnt in Hamburg, arbeitet als Redakteur für tagesschau.de und reist von dort regelmäßig in die russischsprachige Welt, unter anderem nach Russland, in die Ukraine und ins Baltikum. Davor war er Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung. Wichtigster Grundsatz als Journalist: „Reden mit“ statt „reden über“! Mehr unter: http://steinlein.online. Vor seinem Outing als Transmann war er 2017 bis 2020 Teil unseres Korrespondentinnen-Teams.

Alle Artikel von Jasper Steinlein anzeigen

image/svg+xml
Pauline TillmannKonstanz
Nur wenigen Künstler*innen können von ihrer Arbeit leben. Stefanie Scheurell ist eine von ihnen. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, Grenzen zu überwinden und Menschen zum Dialog aufzufordern. Wir haben sie getroffen, über ihre Kreativität und ihre Ziele gesprochen.
Sabrina ProskeMünchen
In Somalia sind Frauen das wirtschaftliche Rückgrat der Gesellschaft und emotionale Band der Familie. Dennoch nimmt die Gewalt gegen Frauen innerhalb der Familie zu und die Zahl der Femizide steigt dramatisch an. Drei Todesfälle von Frauen aus Mogadishu gerieten auf Grund seiner Brutalität international in die Schlagzeilen. Woher kommt die Gewalt? 

Newsletter Anmeldung

Trage dich jetzt für unseren kostenfreien Newsletter ein, der dich jede Woche mit aktuellen Infos zu neuen Artikel und mit Neuigkeiten rund um DEINE KORRESPONDENTIN versorgt!

Abonniere unseren kostenfreien Newsletter