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Erst fliehen, dann berichten
Journalistin baut sich neues Leben auf

18. Januar 2023 | Von Regine Glass
Anastasija Palchyk schätzt an Schweden ihr Verhältnis zur Natur und den Umgang unter den Mitmenschen. | Foto: Regine Glaß Fotos: Ekoï

Sie war nie gekommen, um zu bleiben: Anastasija Paltschyk war im März 2022 eine von rund 27.000 Menschen aus der Ukraine, die Zuflucht in Schweden suchten. Seit ihr Freund im Kampf gegen Russland starb, sieht die Journalistin ihre Mission darin, vom Krieg in der Ukraine zu berichten und anderen zu helfen.

Von Regine Glaß, Göteborg

Anastasija Paltschyk hat sich lange heimatlos gefühlt. Wegen ihrer Jobs waren ihre ukrainischen Eltern nach Russland gezogen, sie selbst lebte als Studentin, Englischlehrerin und Architektur-Fachjournalistin in Russland, Polen und zuletzt in Lutsk, einer Stadt in der Ukraine unweit der polnischen Grenze. Hier lernte sie Marc Nahornyuk kennen – ihre große Liebe. Im Frühling 2020, als in der Pandemie strenge Kontaktbeschränkungen galten, trafen sich die beiden, spielten Schach an der frischen Luft.

„Als die Polizei vorbeikam und uns eigentlich darauf hätte hinweisen müssen, nicht zusammenzusitzen, sahen wir wohl so vertraut aus, dass sie sagten: ,Was sollen wir nur mit euch machen?’, und wieder wegfuhren.“ Zwei Jahre später war das normale Leben, wie Paltschyk es kannte, erst einmal vorbei. Mit Putins Invasion in die Ukraine, von der sie mitten in der Nacht erfuhr, stand ziemlich schnell fest: Ihr Partner würde bleiben und in der Armee gegen Russland kämpfen, Anastasija Paltschyk würde fliehen.


 

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Dass die Flucht nach Schweden führen sollte, lag auf der Hand. Der Grund: Sie war auf einer Fahrradtour mit Marc schon einmal im Land gewesen, es hatte ihr sehr gefallen, sie hatte den Eindruck, dass die Menschen sehr freundlich waren und sorgfältig mit der Natur umgingen. Sie sagt: „Ich habe mich hier immer gesehen, lange vor diesem Moment, der alles veränderte.“ Die 32-Jährige, die zuletzt als Englischlehrerin gearbeitet hatte, träumte davon, in Schweden Pädagogik zu studieren, sich das schwedische Schulsystem anzusehen, von dem sie nur Gutes gehört hatte – und dann mit diesem Wissen in die Ukraine zurückzukehren und eine Schule aufzubauen.

Außerdem hatte sie gesehen, dass die meisten Geflüchteten in die Nachbarländer Polen und Tschechien reisten und nach Deutschland. Schweden war etwas weiter weg. Paltschyk war eine von rund 27.000 Menschen, die Zuflucht suchten. „Und: Ich hatte gehört, dass Schweden bereits 2015 gute Erfahrungen mit der Aufnahme von Geflüchteten gemacht hatte.“ In der Tat kamen damals mehr als 160.000 Asylsuchende nach Schweden; damit war es eine Zeit lang – nach Deutschland – das Land in der Europäischen Union, das im Verhältnis zur Einwohner*innenzahl die meisten Geflüchteten aufgenommen hatte.

Göteborg: Neues Zuhause für viele geflüchtete Ukrainer*innen. | Foto: Unsplash / Edvin Johansson

Unverhofft Job als Journalistin gefunden

Die guten Englischkenntnisse auf beiden Seiten sollten ihr rasch eine Arbeit ermöglichen, hoffte Paltschyk. Ein Haus über dem Kopf bekam sie zunächst in einer Geflüchtetenunterkunft – einer Kirche – in Kungsbacka, einer kleinen Stadt in der Nähe von Göteborg. Täglich seien Freiwillige gekommen und hätten gefragt, was sie brauchten. „Und ich brauchte einen Job!“, erzählt die studierte Journalistin. Am Liebsten wollte sie darüber berichten, was in ihrer Heimat vorging. Ihr Plan B war es, wieder als Englischlehrerin zu arbeiten. Innerhalb kürzester Zeit wurden ihr drei Stellen empfohlen: Als Fachjournalistin für Bau in Stockholm, als Englischlehrerin für Geflüchtete und als Rechercheurin und Übersetzerin in Göteborg bei der Zeitung „Göteborgs-Posten“.

Die Freiwilligen in der Kirche hatten sich sehr für sie eingesetzt und viele Zeitungen in Schweden angeschrieben. „Göteborgs-Posten“ ergriff die Chance, weil sie in der Redaktion niemanden mit ausreichenden Russisch- oder Ukrainisch-Kenntnissen hatten, um auf Primärquellen zurückgreifen zu können. Am Ende entschied Paltschyk sich für die Ein-Millionen-Einwohner-Stadt, weil es ihr familiärer erschien als das große, teurere Stockholm und sie hier ihre Mission erfüllen konnte: Menschen von der Situation in der Ukraine berichten. Sie fand bald ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft. Die Voraussetzungen, sich in Schweden ein neues Leben aufbauen zu können, waren also erst einmal geschaffen.

Doch dann erhielt sie im Mai die erschreckende Nachricht: Marc war beim Kampf im Donbas gestorben. Damit veränderte sich erneut alles für sie. Für die Beerdigung kehrte sie in die Ukraine zurück. „Ich war so beschäftigt mit meinen Sachen, mit der Beerdigung, ich fühlte mich, als sei meine andere Hälfte von mir weggenommen wurden. Ich wusste nicht, wie ich weiter machen sollte, ob und warum ich zurück nach Schweden sollte.“ Dann erhielt sie einen Anruf von der Zeitung, die ihre Sprachkenntnisse in Schweden brauchte. „Der Auftrag war wie ein Angelköder für mich. Ich wurde von diesem Anruf gerettet, weil ich nicht wusste, was ich sonst hätte tun sollen“, so Anastasija Paltschyk.

Menschen bei Demonstration zur Unterstützung der Ukraine im Mai 2022. | Foto: Regine Glaß

Ukrainische Community hilft einander

In Göteborg gibt es relativ viele Organisationen, die sich darum kümmern, Menschen aus der Ukraine zu helfen und in Arbeit zu bringen. Maria Melnyk arbeitet zum Beispiel als Projektmanagerin bei „Connect with Ukraine“, die Geflüchteten dabei hilft, sich mit Arbeitgebern zu vernetzen. Außerdem engagiert sie sich für „Help Ukraine Gothenburg“, einer Organisation, die sich im Februar 2022 gegründet hat, um Menschen mit Kleidung und Hygieneartikeln zu versorgen. „Die meisten Personen, die ich treffe, wollen sehr gern aktive Mitglieder der Gesellschaft werden und auf den Arbeitsmarkt kommen, während sie sich in Schweden befinden, unabhängig davon, ob sie so schnell wie möglich zurückkehren oder hierbleiben wollen“, erklärt Melnyk. Sie habe Verständnis dafür, dass es schwerfällt, ein neues Zuhause aufzubauen, wenn man eigentlich so schnell wie möglich wieder nach Hause zurückgehen möchte.

Selbst in der Ukraine geboren und aufgewachsen, kennt sie sich gut mit kulturellen Unterschieden zwischen den beiden Ländern aus. Für ihren Einsatz bei der Organisation wurde die Logistik-Managerin  von ihrem Arbeitgeber ein halbes Jahr vom Dienst freigestellt. Somit arbeitet sie im Moment hauptberuflich bei „Connect with Ukraine“ und ehrenamtlich in ihrer Freizeit für „Help Ukraine Gothenburg“. Auch Paltschyk schaut regelmäßig bei der Organisation vorbei, um Spenden abzugeben. Die Hilfsorganisationen sind nicht nur eine Verbindung zwischen Unternehmen und Geflüchteten, sondern hilft auch bei der Vermittlung von Sprachkursen.

Anastasija Palchyk in einem traditionellen Kleid aus der Ukraine. | Foto: Regine Glaß

Doch selbst Paltschyk, die mehrere Sprachen wie Ukrainisch, Russisch, Belarussisch und etwas Polnisch spricht, fällt das Erlernen von Schwedisch schwer. „Mein Kopf ist einfach so voll, und ich habe den Kurs irgendwann abgebrochen, weil ich das Gefühl hatte, diese Zeit lieber mit der Berichterstattung über die Ukraine verbringen zu wollen.“ Seit dem Tod ihres Partners Marc fühle sie sich plötzlich wie unter Fremden. Richtig lebendig sei sie, wenn sie sich mit ukrainischen Menschen umgebe, auf Konzerte mit ukrainischer Musik gehe und sich mit anderen Ukrainer*innen austausche.

„Nach einer traumatischen Belastungsreaktion ist es völlig natürlich, Unterstützung, Schutz und Trost bei Menschen zu suchen, denen man vertraut und die einem am Nächsten stehen“, sagt Henry Ascher, Forscher an der Universität Göteborg und Experte für soziale Ungleichheiten im Bereich mentale Gesundheit. „Eine gewöhnliche Reaktion nach solchen Traumata ist, den Vertrauensbruch zu fühlen und abzuwägen, ob die meisten Menschen gut und mir wohlgesonnen sind – sogar andere, die Ähnliches erlebt haben“, führt er weiter aus. Ihr Vorteil: Sie sind keine Täter und sie verstehen, was man durchgemacht hat, und wissen deshalb auch, worüber es schwerfällt zu reden oder Worte dafür zu finden.

Ukraine bleibt Zuhause

Die 32-jährige Paltschyk trifft sich auch mit Ukrainer*innen, die bereits vor dem Krieg wegen eines Jobs nach Schweden emigriert sind. Ihrer Meinung nach sei es einfacher, mit ihnen nicht über Kriegserfahrungen zu sprechen – und dadurch im schlimmsten Fall retraumatisiert zu werden. Gleichzeitig gibt es hin und wieder Begegnungen mit Geflüchteten, mit denen man Sorgen über Job und Geld teil. Diese Treffen sind nicht immer einfach, weil sie oftmals nach einer Erklärung fragen, wie man so erfolgreich sein kann. Die Journalistin wehr dann immer ab und sagt, dass sie einfach Glück gehabt hatte.

Aber Anastasija Paltschyk begnügt sich nicht damit: Ihr Gehalt von der Zeitung fließt in Spenden in die Ukraine, an wohltätige Organisationen, die Menschen vor Ort und Geflüchteten helfen. Außerdem erwirbt sie Dinge aus ukrainischer Herstellung, wie das handgemachte Kleid, dass sie hier in Schweden trägt. Sie kauft sogar Parfüm, für das ihre Nase eigentlich zu sensibel ist, aber sie will damit Firmen helfen, die auf ihren nicht überlebensnotwendigen Gütern sitzen bleiben. Und irgendwann, da ist sie sich sicher, wird sie zurückkehren. Sie ist sich sicher, „Ukraine ist mein Zuhause“

Für die Zukunft wünscht sie sich, eine Familie aufbauen zu können – mit Kindern – und in ein aufgebautes Land übergehen zu können. Sie stellt sich vor, von ihrer Station in Schweden zu erzählen und davon, wie sie gelernt habe, ein richtig gutes Leben zu führen. Zum Abschied sagt sie: „Ich glaube, wenn man ein gutes Leben für sich selbst aufgebaut hat, dann kann man ein bisschen altruistischer sein – und das ist eine gute Basis für den Umgang von unterschiedlichen Menschen aus unterschiedlichen Ländern.“

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Von Regine Glass, Göteborg

Regine Glaß lebt als freie Journalistin, Autorin und Übersetzerin in Göteborg. Von Westschweden aus schreibt sie Reportagen, Interviews und Analysen auf Deutsch und Schwedisch. Ihre journalistischen Themen sind urbanes Leben, die Gleichstellung aller Geschlechter und die Gefahr von rechts-außen. Mehr unter: https://regineglass.com/ 

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Sabrina ProskeMünchen
Saado Ali* ist eine junge Mutter aus Nordsomalia. Sie flieht hochschwanger mit ihrem kleinen Sohn Yusuf vom Krieg. Zwischen provisorischen Zelten und Planen setzen plötzlich ihre Wehen ein. Mit uns spricht sie erstmals über ihre Erfahrungen als Schwangere in einem Kriegsgebiet.

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