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„Du bist in meinem Herzen gewachsen“
Ein Kinderbuch über Adoption

9. November 2022 | Von Ragna Swyter
Adoptivmutter Liz Taylor liest aus dem Buch ‚We love you Hundreds and Thousands‘, das für Autorin Dara Read selbst zum Heilungsprozess wurde. Fotos: Dara Read

Dara Read ist adoptiert. Sie erinnert sich gut daran, dass es in ihrer Kindheit keine Literatur über ihre Art von Familie gab. Nun ist sie selbst Mutter und hat „We love you Hundreds and Thousands“ geschrieben. Dabei hat sie einiges gelernt.

Von Ragna Swyter, Sydney

Das Mädchen mit den grünen Haaren und der pinken Herzchen-Brille sticht sofort ins Auge. In der rechten Hand hält sie bunte Luftballons, vor ihr steht eine riesige Geburtstagstorte, mit Hunderten der bunten Zuckerperlen (in Australien „Hundreds and Thousands“ genannt) besprenkelt und mit fünf goldenen Kerzen bestückt. Das ist das Cover des herrlich quietschbunten, lustigen und auch emotionalen Kinderbuches „We love you Hundreds and Thousands“. Das Mädchen mit den grünen Haaren heißt Jasmine.

„Ich liebe Geburtstagspartys und besonders meine eigenen!“ lautet ihr erster Satz. Im Folgenden erzählt sie davon – einmal gefeiert mit einer riesigen Wasserrutsche im Garten, ein anderes Mal mit einem Lagerfeuer und einer Schlafparty. Jede Feier endet mit der Feststellung, dass Jasmine anders ist als ihre Eltern. Doch das macht nichts, denn diese haben sie unendlich lieb und das sei das Einzige, das zählt. „Das Schreiben des Buches war eine Art Heilprozess für mich“, erklärt Dara Read fast nebenbei, doch der Satz klingt lange nach.


 

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Es heißt im Allgemeinen, das erste Buch sei oft ein autobiografisches, also eine Geschichte über das selbst Erlebte. Dara Read macht heute kein Geheimnis daraus, dass sie adoptiert ist. „Ich hatte eine fantastische Kindheit.“ Der heute 42-Jährigen war schon früh bewusst, dass sie adoptiert war, auch wenn ihre Eltern das Thema nur selten zur Sprache brachten. „Sie webten es in mein Leben ein,.“

Tabuisierung ist ein Problem

Heute sieht die Autorin eben das als Problem. Denn sie glaubt, wenn mit dem Thema in der Kindheit offener umgegangen werde, könnten mit der Adoption verbundene Schamgefühle verhindert werden. „Als Jugendliche war mir klar, dass ich anders war. Das wollte ich aber nicht.“ Lange sprach sie nicht darueber, dass sie adoptiert war und erst später erzählte sie im engeren Freund*innenkreis davon. „Die Tatsache wurde von allen liebevoll und interessiert aufgenommen“, erinnert sie sich heute.

Dara Read war in einer in Australien sogenannten „geschlossenen Adoption“ im Alter von sechs Wochen adoptiert worden. Das heißt, dass der Kontakt zu ihren leiblichen Eltern nicht möglich war. Mit 18 Jahren bekam sie per Gesetz das Recht, Informationen zu ihrer leiblichen Mutter einzusehen. Mit Anfang 20 stand sie ihren leiblichen Eltern das erste Mal gegenüber. Endlich wurden Fragen beantwortet und sie fühlte sich – Zitat – „buchstäblich vollständig“. Sie stellte nicht nur äußerliche Ähnlichkeiten fest. Ihr leiblicher Vater hatte eine ähnliche berufliche Karriere und ihre leibliche Mutter war genauso kreativ wie sie.

Australierin Dara Read schrieb ein inspirierendes Kinderbuch über Adoption und verarbeitete dabei ihre eigene. | Foto: Dara Read

Magie des Vorlesens

Bücher waren für Dara Read schon immer wichtig. Schon im Jahrbuch ihrer sechsten Klasse verkündete die damals Zwölfjährige, dass sie später einmal Gemüse anbauen und Schriftstellerin sein würde. Doch entschied sie sich dafür, Jura zu studieren. Heute arbeitet sie als Juristin für Sozialrecht und war auch schon als Beraterin für Adoptiv- und Pflegekinder tätig. „Als ich mit meinem heute sechsjährigem Sohn schwanger war, begann eine krasse Veränderung in mir. Als Adoptierte selbst Mama zu werden brachte unheimlich starke Emotionen hervor, die ich lange ignoriert und niemals verbalisiert hatte.“

Die Elternzeit nutzte die Anwältin, sich über ihre Situation bewusst zu werden, sie zu reflektieren und mit dem Buch anzufangen. „Eine meiner stärksten und schönsten Erinnerung meiner Kindheit ist, dass meine Mutter mir vorgelesen hat. Als Mutter ist mir bewusst geworden, wie positiv sich vorlesen auf die Eltern-Kind-Beziehung auswirkt. Ich glaube fest an die Magie, die dabei zwischen Eltern und Kind entsteht.“ Dennoch erinnert sich die Autorin auch daran, dass keine*r ihrer Kindheits-Held*innen adoptiert war. Das existierte in der Welt ihrer Bücher nicht.

Besondere Lebensumstände werden thematisiert

Heute hat sich der Buchmarkt emanzipiert. Viel öfter werden besondere Lebensumstände thematisiert – sei es schlicht der Fakt, dass die Hauptfigur weiblich ist oder eine andere Hautfarbe hat. So sagt die US-amerikanische Kinderbuchautorin Vashti Harrison, deren Hautfarbe Schwarz ist und deren Buch „Little Leaders: Bold Women in Black History“ Schwarze Frauen porträtiert: „Wenn man seine eigenen Lebensumstände in der Geschichte eines Vorbildes wiedererkennt und sich damit identifiziert, kann es das eigene Leben verändern.“

Solche Geschichten zeigten den Kindern, dass auch sie Held*innen sein, Abenteuer erleben und die Welt retten könnten. Kommen ihre Lebensumstände in Büchern vor, sei es eine Bestätigung, dass sie existieren, dass „ihre Sorgen echt und dass es okay ist, so zu sein wie sie sind“.

Die Magie des Vorlesens: Im Buch erzählt Protagonistin Jasmine von ihren Geburtstagsfeiern und wie es ist adoptiert zu sein. | Foto: Dara Read

„We love you Hundreds and Thousands“ soll Adoptivkindern diese Möglichkeit zur Identifikation geben. Zwei Jahre lang schrieb, verbesserte und redigierte Read das Buch. Sie hat einige Workshops besucht, Kurse belegt und in Schreibgruppen gearbeitet. Doch obwohl es heutzutage schon mehr Bücher zu dem Thema gibt als in den 80ern, hatte Dara Read Probleme, einen Verlag zu finden. „Ich habe es zu den verschiedensten Verlagen geschickt und es wurde regelmäßig abgelehnt.“

Offizieller Grund: ein zu kleines Zielpublikum. Nach zwei Jahren veröffentlichte sie es im vergangenen Jahr selbst. Die besondere Herausforderung bestand darin, so ein Projekt nebenbei zu stemmen. Denn zu diesem Zeitpunkt forderte ihr Kind noch ihre gesamte Aufmerksamkeit und wenig später stieg sie wieder in den Beruf ein.

All das nebenbei, denn zunächst war sie Vollzeit-Mutter, dann stieg sie wieder in ihren Beruf ein. Ihre Heldin Jasmine hat einige Gemeinsamkeiten mit Read: „Auch ich liebe alles, was glitzert, ich liebe Partys und ich liebe tanzen.” Grüne Haare hat sie nicht, jedoch trägt sie mit Vorliebe bunte Kleidung und hat einen wuscheligen roten Haarschopf.

Adoptionszahlen in Australien auf niedrigstem Stand seit 25 Jahren

Wie viele Bücher sie schon verkauft hat, kann sie nicht sagen. Daran misst sie nicht ihren Erfolg. „Für mich sind die vielen Nachrichten und Fotos, die ich erhalte, von viel größerem Wert.“ Auf diesem Wege erfährt sie, dass ihre Nachricht ankommt. Nämlich, dass Liebe eine Familie ausmacht und es Familien in allen möglichen Formen und Strukturen gibt. „Ich habe das Buch geschrieben, um Menschen, die es brauchen, zu erreichen, und nicht, um Geld zu verdienen.“

Adoptivmutter Liz Taylor ist Fan und verkleidete sich während der australischen Bücherwoche als Jasmin.

Ihr Buch wurde bisher in Australien, Neuseeland, England und den USA gekauft und steht auch in einigen Schulbibliotheken. Eine Übersetzung ins Deutsche ist angedacht. Dabei werden in Australien immer weniger Kinder adoptiert. In den vergangenen 25 Jahren reduzierten sich die Zahlen um 63 Prozent. So waren es im vergangenen Jahr nur 264 Kinder. Zum Vergleich: In Deutschland wurden 3.843 Kinder und Jugendliche adoptiert.

Zwei Gründe seien dafür, laut Institut für Gesundheit und Sozialwesen, entscheidend: Zum Einen sind die Zahlen der Auslandsadoptionen aus ethischen Gründen seit den 90er Jahren stark gesunken. Zum Anderen entschließen sich schlicht weniger Familien dazu, ihr Kind zur Adoption freizugeben. „Es gibt nicht mehr das Stigma, das früher einmal vor allem für alleinerziehende Frauen in Australien galt“, so Renee Carter, Geschäftsführerin der australischen Organisation „Adopt Change“.

Die Zahlen der sogenannten „offenen Adoptionen“ hingegen steigen. Dabei handelt es sich um Kinder, bei denen zum Beispiel die Gefahr von Missbrauch besteht. Diese werden im Kinderschutzprogramm aufgenommen und kommen zu Pflegefamilien. Zurzeit leben rund 46.000 Kinder in Australien in Pflegefamilien, 94 Prozent davon gehören zum Kinderschutzprogramm.

Buch erleichtert Verständnis zum Thema Adoption

Lily lebt in der Nachbarschaft von Dara Read und gehörte zu den ersten Lesenden des Buches. Sie ist sechs Jahre alt und wurde von ihren Eltern im Alter von dreieinhalb Jahren adoptiert, nachdem sie vorher zwei Jahre als Pflegekind mit ihnen gelebt hat. Ihr ist bewusst, dass sie adoptiert ist. Auch der Kontakt zu ihren leiblichen Eltern wurde nie abgebrochen. Das Thema wird in der Familie besprochen, wenn Lily es möchte. Ihre Adoptivmutter Liz Taylor ist begeistert von „We love you Hundreds and Thousands“; Lily mag die Heldin Jasmin und die bunten Bilder und die Partys.

Ganz besonders aber liebt sie den Schluss des Buches, in dem Jasmine die Lesenden auffordert, alle Menschen, von denen sie über alles geliebt wird, in ein Herz zu schreiben. „Ich fand es wunderschön zu sehen, wie viele Namen Lily sofort eingefallen sind. Für mich ist es unheimlich wichtig, dass sie weiß, dass sie von vielen geliebt wird“, so Liz Taylor.

Zweisamkeit: Die sechsjährige Lily mit Adoptivmutter Liz Taylor | Foto: privat

Beim Lesen des Buches sei es nicht so, dass Lily ständig Parallelen zu ihrer Situation zöge, aber sie glaubt, dass definitiv etwas davon hängenbleibt – „Und für mich, als Adoptivmutter einer Tochter, die ständig mehr und mehr Fragen über ihr Leben und ihr Sein stellt, könnte dieses liebenswerte Buch nicht hilfreicher sein.“

Auch für das allgemeine Verständnis zum Thema Adoption in Australien sieht Taylor in dem Buch die Chance, den Umgang mit adoptierten Kindern zu verbessern. Schließlich könne das Buch helfen, die Umstände dieser Familien besser zu verstehen. Heldin Jasmine findet es lustig, dass alle sagen, wie sehr sie ihren Eltern ähnelt, denn: „Ich bin gar nicht in Mamas Bauch gewachsen.“

Ständig müsse sie unendlich viele Fragen dazu beantworten, doch dabei sei es doch recht einfach. „Meine leiblichen Eltern haben mich gemacht und bei Mama und Papa bin ich aufgewachsen.“ Und weiter: „Meine Mama sagt immer zu mir: ‚Du bist in und nicht unter meinem Herzen gewachsen.‘ Das macht, dass ich mich ganz besonders fühle.“

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Von Ragna Swyter, Sydney

Ragna Swyter lebt seit 2010 mit ihrem Mann und zwei Kindern in Australien. Zuvor hatte sie als Redakteurin bei der Tageszeitung Südkurier in Konstanz am Bodensee gearbeitet, wo sie auch volontiert hat. Als freie Journalistin berichtet sie für diverse Medien. Am Liebsten schreibt sie über Menschen, Klima Wandel, Australien und Sportthemen. Außerdem ist sie als Surflehrerin und Life Coach tätig, wenn sie nicht gerade Wellen reitet.

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