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Die Unermüdlichen
Wie Schweden in puncto Gleichberechtigung zurückrudert

16. Juli 2025 | Von Regine Glass | 11 Minuten Lesezeit
Aktivistin Susannah Sjöberg nahm im März 2025 bei einem Treffen der Vereinten Nationen teil. Foto: Fanny Texier

Das Vorzeigeland Schweden in Hinblick auf Gleichberechtigung macht immer mehr Rückschritte. Susannah Sjöberg vom Verband „Sveriges Kvinnororganisationer“ und Sineva Ribeiro von der Gewerkschaft „Vårdförbundet“ wehren sich und engagieren sich für eine bessere Zukunft. 

Von Pauline Tillmann, Konstanz

 

Zusammenfassung:

Trotz Schwedens Ruf als gleichstellungsfreundliches Land beobachten Aktivistinnen wie Susannah Sjöberg und Sineva Ribeiro einen Rückschritt: Feministische Begriffe verschwinden aus der Politik, Lohnlücken wachsen, Pflegekräfte leiden unter prekären Bedingungen. Frauenorganisationen kämpfen mit Nachdruck gegen diesen Trend – für Fortschritt statt Rückschritt und eine echte Gleichstellung in allen Lebensbereichen.  

 

Von Regine Glaß, Göteborg 

Schweden war bisher bekannt für ihre feministische Außenpolitik, die Gleichstellung von Männern und Frauen in vielen Bereichen sowie eine umfassende Kinderbetreuung. In Zahlen spricht im europäischen Vergleich immer noch vieles für eine relativ gleichberechtigte Gesellschaft. In Deutschland arbeitet zum Beispiel jede zweite Frau in Teilzeit – in Schweden nur jede Dritte.  

Doch Frauenorganisationen sind alarmiert: Laut einem Report der Gleichstellungsbehörde vom Herbst 2024 sinkt die Gleichberechtigung trotzdem in allen Bereichen: Der Gender-Pay-Gap steigt, mehr Frauen arbeiten in Teilzeit, die Worte Gleichstellung und Feminismus verschwinden nach und nach aus offiziellen Regierungspapieren. Feminist*innen vermuten: Ursache ist der Rechtsruck in der schwedischen Regierung.  

Pflegestreik 2024: Im Juni ging das schwedische Pflegepersonal für bessere Arbeitsbedingungen auf die Straße. I Foto: Presse Vårdförbundet 

Susannah Sjöberg, Generalsekretärin der großen schwedischen Organisation von Frauenverbänden „Sveriges Kvinnororganisationer“, sieht einen Backlash in der derzeitigen Politik: „Die Gleichstellung ist auf verschiedene Weisen zurückgegangen. Wir sind zwar immer noch on-top auf der EU-Liste, was Gleichstellung angeht, aber wir beobachten vor allem im ökonomischen Sektor einen Rückschritt. Die Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern steigen.“  

Im Jahr 2022 wurden in Schweden die drei bürgerlich-konservativen Parteien Moderaten, Christdemokraten und Liberale mit Hilfe der rechten Partei der Schwedendemokraten, kurz SD, zur Regierung gewählt, ohne die Mehrheit zu besitzen. Alle anderen Parteien hatten eine Zusammenarbeit mit den Schwedendemokraten verweigert. Damit erhielt SD die Sperrminorität. Das heißt, dass sie wichtige Entscheidungen im schwedischen Reichstag bei Abstimmungen mit ihren Stimmen blockieren können. Außerdem konnten sie so mit an der Regierungserklärung schreiben. Die so genannte bürgerliche Allianz löste mit Hilfe der Schwedendemokraten die rot-grüne Regierung ab.  

Anstieg von Krankschreibungen  

Die Krankschreibungen auf Grund von Stress sind gestiegen, vor allem in der Kranken-, Altenpflege und Kinderbetreuung. Am höchsten ist der Anteil der niedriger qualifizierten und damit schlechter bezahlten Hilfskrankenschwestern und Betreuungsaushilfen, insbesondere die Gruppe der außerhalb Schwedens geborenen Frauen.  

Diese Entwicklungen sind nicht erst seit 2022 in Gang, sie liegen in der Verantwortung aller bisherigen, schwedischen Regierungen, betont Sjöberg. Neu aber ist: Statt wie vorherige Regierungen aktiv Gleichstellungspolitik voranzutreiben, verzichtet die Allianz zunehmend auf Begriffe, die explizit mit dem Engagement für Frauen und Mädchen zusammenhängen.  

Der damalige Außenminister Tobias Billström hat zum Beispiel 2022 als eine der ersten Amtshandlungen den Begriff „Feministische Außenpolitik“ abgeschafft. Ist der Begriff denn überhaupt wichtig für eine solche Politik? Sjöberg zu Folge schon.  

Sie erklärt: „Wir warten unter dieser Regierung immer noch auf einen Botschafter zu Menschenhandel und Prostitution, den wir unter der vorherigen Regierung hatten. Vor Kurzem war ich in New York beim Frauentreffen der Vereinten Nationen. Ich habe dort keine sehr starke, feministische Außenpolitik wahrgenommen. Die halbe Mandatsperiode ist bereits vorbei und noch immer wird kaum etwas für die Frauen im Iran getan.“  

Bei den Übergriffen des russischen Regimes auf Frauen in der Ukraine oder in Gaza würde man sehen, was Frauen angetan werde, erläutert sie anhand von Beispielen, was seit Abschaffung der feministischen Außenpolitik fehle.  

Susannah Sjöberg beim Zoom-Gespräch in ihrem Büro. I Screenshot: Regine Glaß

Weniger Fokus auf Gleichstellung in Behörden 

In Schweden gibt es ein Gleichstellungziel, das besagt: Männer und Frauen sollen gleichermaßen dazu bemächtigt sein, die Gesellschaft und ihr eigenes Leben zu gestalten. Dieses Ziel soll von nationaler bis kommunaler Ebene in allen Bereichen durchgesetzt werden. Der Report der Gleichstellungsbehörde, auf den sich die die Frauenorganisation beruft, sieht seit 2022 jedoch deutlich weniger Fokus auf Gleichstellung.  

Sjöberg ist vom Ziel der Gleichberechtigung in Schweden absolut überzeugt, geändert werden müsse daran im Grunde nichts. „Aber ich glaube, dass wir in Schweden ein falsches Selbstbild davon haben, wie gleichberechtigt wir tatsächlich sind. Dieses falsche Selbstbild steht einer komplett gleichgestellten Praxis im Wege.“ 

Sie hat selbst bereits viel im Bereich Gleichstellung gearbeitet, nicht nur als Vorsitzende der Frauenverbände, sondern auch in Kommunal- und Regionalpolitik. Aus dieser Erfahrung heraus sagt sie: „Wir glauben, dass viel mehr dazu gehört, die Unterschiede zwischen Frauen und Männern und Mädchen und Jungen sichtbar zu machen.“ 

Politiker*innen sollten sich ihrer Meinung nach zum Beispiel auf kommunaler und regionaler Ebene dafür engagieren, über Gewalt von jungen Männern gegen junge Frauen zu sprechen. Es sei außerdem wichtig, eine gleichberechtigte Verteilung von Kinderbetreuung in Kommunen anzubieten und sich für die Gesundheit von Frauen im Pflegebereich einzusetzen.  

Kritik am Elterngeld für alle 

Ein weiteres Beispiel für einen Rückschritt in puncto Gleichberechtigung ist der Organisation nach das Elterngeld für alle, über das von deutschen Medien als „Elterngeld für Großeltern“ überwiegend positiv berichtet wurde. „Wir sprechen uns stattdessen für ein individualisiertes Elterngeld aus, das gleichberechtigt zwischen beiden Eltern verteilt wird.“ Bisher ist beim Elterngeld ein Anteil von 90 Tagen vorgesehen, den ein Elternteil nicht auf das andere übertragen kann.  

Einer Studie des schwedischen Gewerkschaftsbundes TCO zu Folge entstehe die Ungleichheit zwischen Elternpaaren oft in den ersten beiden Lebensjahren eines Kindes, weil Frauen insgesamt mehr Elternzeit nehmen als Männer. Durch die Übertragung auf andere Verwandte bestände die Gefahr, ein Elternteil aus der Verantwortung zu nehmen: „Es ist ja heute schon so, dass ein gewisser Teil für den Vater vorgesehen ist. Diesen wollen wir vergrößern.“ 

Hinzu kommt: In Schweden arbeiten besonders viele Frauen und im Ausland geborene Menschen in der Pflege. Sineva Ribeiro, Vorsitzende der Gewerkschaft für Pflegekräfte, sieht einen aktuellen Zusammenhang zwischen der aktuellen Pflegekrise, der Politik der bürgerlich-konservativen Parteien und der geringeren Gleichberechtigung.  

Sineva Ribeiro ist die Vorsitzende der Gewerkschaft „Vårdförbundet“. Sie setzt sich für Arbeitsverbesserungen in der Pflege ein. I Foto: privat

Zustände in Pflege haben sich verschärft 

Die Regierung hatte zwar ein neues, höheres Budget für die Pflege veranschlagt, aber: „Das Geld floss in die Verwaltung statt zu denen, die es wirklich brauchen“, kritisiert die 57-Jährige. Sineva Ribeiro hat selbst 34 Jahre lang als Krankenschwester gearbeitet. Die Lebenskosten seien deutlich teurer geworden, doch die Gehälter des Pflegepersonals hätten sich nicht erhöht. Mit ihrer Gewerkschaft hat sie klare Forderungen für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Pflege: Eine Rente ab 64, eine Senkung der Arbeitszeiten, 30 Tage Urlaub.  

Während der Pandemie sei eine große Schere aufgegangen: „Während die einen mehr Zeit mit ihrer Familie und ihren Kindern hatten und lange Fahrten ins Büro gespart haben, war die Lage für das Pflegepersonal verschärft.“ Büroarbeiter*innen hätten durch die Möglichkeit zum Home-Office ihre Arbeitszeit verringert, während die des Pflegepersonals stieg. Viele Angestellte hätten das Recht auf Urlaub in den Sommermonaten, für das Gesundheitswesen gelte dies nicht.  

Diese Bedingungen bestehen also schon länger als die derzeitige Mandatsperiode, sie haben sich durch die derzeitige Regierungspolitik Sineva zu Folge aber noch verschärft. Weil die Ressourcen für das Gesundheitswesen weniger wurden. „Milliarden von Kronen (Millionen von Euro) sind zum Beispiel in ein neues Protokollsystem geflossen, also in die Administration.“ 

Viele Frauen verkürzten ihre Arbeitszeit als Reaktion auf die Mehrarbeit zu geringeren Löhnen, was wieder Einfluss auf ihre Rente habe. Notaufnahmen würden geschlossen, weil Personal fehle. Aufgrund ihrer jahrelangen Arbeit im System weiß sie aus Erfahrung, dass der Arbeitsalltag einmal anders war: „Wir hatten Tag- und Nachtpersonal. Wir mussten nur jedes dritte Wochenende arbeiten, jetzt ist es jedes Wochenende.“ Niemand schaffe es, unter diesen Bedingungen gut zu arbeiten.  

Susannah Sjöberg I Foto: privat  

Es ist einiges im Argen  

Die Politik müsse dringend eingreifen, damit die Bedingungen sich nicht noch weiter verschlechterten. Vollzeitarbeit, so Ribeiro, sollte für Frauen attraktiver gemacht werden, auch im Pflegesystem. Und zwar mit besseren Bedingungen. Die nächsten Wahlen zum schwedischen Reichstag stehen im Jahr 2026 an. In aktuellen Prognosen sind die rechten Schwedendemokraten die zweitstärkste Kraft, genau wie 2022.  

Die Frauenorganisation „Sveriges Kvinnororganisationer“ bemerkt, dass unter der neuen Regierung eine Gleichstellungsanalyse zur Migrationspolitik bisher fehle. Stattdessen hat die Regierung neulich ausgelotet, ob es ein Recht auf Übersetzer*innen geben soll. Die Mitglieder der Organisation befürchten, dass im Fehlen einer unabhängigen Übersetzer*in das Risko liegt, dass Familienmitglieder einander übersetzen.  

Wenn Frauen zum Beispiel auf häusliche Gewalt hinweisen wollen, könnte es passieren, dass sie von ihren Ehemännern nicht korrekt übersetzt werden. „Damit sind wir als Organisation nicht einverstanden.“ Im Moment arbeiteten sie selbst an einem Bericht, wie im Ausland geborene Frauen in Schweden Rassismus erleben. Auch hier klafft die Lücke zwischen Selbstbild und Realität in Schweden noch gewaltig.  

Engagement für bessere Arbeitsbedingungen in Feldern, in denen vor allem Frauen arbeiten, ist Sineva Ribeiros Antwort auf diese Lücke.  Die Frauenorganisationen sind unter anderem mit kontroversen Leitartikeln und Kommentaren in schwedischen Zeitungen in der öffentlichen Debatte in Schweden sehr präsent. Sie alle arbeiten daran, die Lücke zu schließen und fordern Fortschritt statt Rückschritt. 


 

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Von Regine Glass, Göteborg

Regine Glaß lebt als freie Journalistin, Autorin und Übersetzerin in Göteborg. Von Westschweden aus schreibt sie Reportagen, Interviews und Analysen auf Deutsch und Schwedisch. Ihre journalistischen Themen sind urbanes Leben, die Gleichstellung aller Geschlechter und die Gefahr von rechts-außen. Mehr unter: https://regineglass.com/ 

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Pauline TillmannKonstanz
Für ihre Ausstellung „ORIGIO“ hat die Fotografin Milena Schilling Menschen aus Konstanz ins kalte Wasser gebeten, um den Ursprung allen Lebens sichtbar zu machen. Im Interview spricht sie über künstlerische Präzision, natürliche Unberechenbarkeit und ihre Vision, eines Tages mit Walen zu tauchen.

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