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Die Muschelfrauen aus Mesopotamien
Was Schalentiere, Istanbul und Kurdinnen verbindet

10. August 2016 | Von Veronika Hartmann
Acht Euro macht eine Muschelfrau pro Bottich - so tragen sie zum Hauseinkommen bei. Foto: Veronika Hartmann

Mitten im Herzen von Istanbul, nur einen Steinwurf von der beliebten Einkaufsmeile İstiklal entfernt, befindet sich der Stadtteil Tarlabaşı. Hier haben sich viele Kurden angesiedelt, die vor dem Bürgerkrieg im Südosten der Türkei geflohen sind. Die Frauen führen ein Leben zwischen Tradition und Moderne. Ihr Schlüssel für eine bessere Zukunft sind schwarzglänzende Miesmuscheln.

Von Veronika Hartmann, Istanbul

Nur einen Steinwurf vom Istanbuler Taksim-Platz im Stadtteil Tarlabaşı befindet sich die Cevza Sokak. Sie ist so steil, dass sie für den Verkehr  gesperrt  ist. Der Straßenbelag ist löchrig und vor manchen Hauseingängen grasen Ziegen. Die Gasse ist bevölkert von Frauen und lärmenden Kindern aller Altersklassen. Nachmittags und abends sitzen sie um riesige, abgewetzte Plastikwannen vor ihren Hauseingängen und nur der Geruch ist ein Hinweis darauf, was sie hier tun: Es riecht nach Meer, genauer gesagt nach frischen Miesmuscheln. Denn hier, wo die Kinder mit kaputten Plastiklatschen bunten Bällen hinterherlaufen oder auf Holzbrettern die steile Gasse hinab rutschen, befindet sich in fast jedem zweiten Keller eine Muschelküche, für die es offiziell keine Genehmigung gibt. Die Frauen, die hier leben, versuchen so einen finanziellen Beitrag für ihre Familienkasse zu leisten.

Eine dieser Frauen ist Şehriban. Sie ist 34, trägt einen geblümten, langen Rock und ein buntes Tuch, das sie um ihren Kopf geschlungen hat. Sie fischt eine Miesmuschel aus dem schlammig-trüben Wasser, dann rammt sie gekonnt ein kurzes Messer mit gebogener Schneide in die Längsseite einer Schale, öffnet diese und rupft ein kleines grünes Büschel heraus. Dann wird die Muschel ausgespült und in den nächsten Bottich geworfen. „Pro Bottich bekomme ich 25 Lira. Zwei  schaffe ich am Tag. Zumindest, wenn mir meine Töchter dabei ein bisschen zur Hand gehen“, erklärt Şehriban. Also verdient sie knapp acht Euro oder auch mal das Doppelte pro  Tag . Aber sie hat nicht viele andere Möglichkeiten, etwas dazuzuverdienen. Şehribans Mann würde es nicht gutheißen, wenn sie außer Haus einer Tätigkeit nachgehen würde. Aber mit dem gesetzlichen Mindestlohn, den er als Nachtwächter verdient, ist es nicht leicht, in der Großstadt eine sechsköpfige Familie durchzubringen.

Die Miesmuscheln sind in den Küstenregionen der Türkei eine Spezialität, die früher vor allem von den Armeniern und Griechen zubereitet wurde. Wenn die Meeresfrüchte mit gewürztem Reis gefüllt sind, schmecken sie gut zum Rakı, dem traditionellen Anisschnaps und zum intensiven Gespräch, das das Nationalgetränk unweigerlich begleitet. Heute sind es fast ausschließlich kurdische Großfamilien aus dem südostanatolischen Mardin , die in Istanbul oder Izmir im Muschelgeschäft sind. Sie haben sich in Vierteln niedergelassen, die traditionell von den Griechen und Armeniern bewohnt sind und  haben dabei auch deren Rezepte für die Muscheln übernommen.

“Einen Tag drohte die PKK, den anderen das Militär”

Şehriban ist beliebt in der Cevza Sokak. Sie hat eine durchdringende Stimme und stets einen Scherz auf den Lippen. Ihre gute Laune zieht immer wieder Nachbarinnen an, die sich auf einen Schwatz zu ihr setzen, sich ein Messer schnappen und mithelfen. Fast alle Anwohner der Cevza Sokak stammen aus Mardin, viele waren bereits dort Nachbarn. Şehriban jedoch nicht. Sie ist zwar ebenfalls in Kurdistan geboren, aber im weiter nördlich gelegenen Siirt. In der Nachbarschaft verwurzelt ist sie trotzdem: „Ich bin mit 13 hier in dieses Haus gezogen“, erklärt Şehriban und zeigt mit den Messer auf ein zweistöckiges Wohnhaus, dessen Fassade bröckelt und wo auf einer durch einen Besenstiel gehaltenen provisorischen Wäscheleine Plastikschälchen zum Trocknen aufgehängt sind. „Damals haben alle über mich gelacht“, sagt sie und fügt hinzu: „Es war mein Hochzeitstag und man hatte mich auf einen Stuhl gesetzt, aber meine Beine waren noch so kurz, dass meine Füße in der Luft baumelten“. Für die Kinderbraut hatte das neue Leben in der Cevza Sokak auch Vorteile, obwohl die Schwiegermutter sie gerne schikanierte. Denn in Siirt fühlte sie sich nicht sicher: „Den einen Tag drohte uns die PKK, den nächsten kam das Militär. Einmal ließen sie alle Dorfbewohner auf dem Platz aufmarschieren und wir dachten, dass wir jetzt alle erschossen werden. Sie warfen uns vor, wir würden mit der PKK kollaborieren. Dann ließen sie uns aber doch gehen.“ Das war der Zeitpunkt, zu dem die Dorfbewohner erkannten, dass sie sich fern vom Bürgerkrieg eine neue Zukunft suchen müssen.

In Mardin, Siirt und den anderen Städten mit weitestgehend kurdischer Bevölkerung formierte sich, organisiert von der mittlerweile verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Widerstand gegen den repressiven Staat, der nach dem Militärputsch 1980 in diesen Gebieten mit besonders harter Hand durchgriff. Der Bürgerkrieg, der noch immer täglich Menschenleben kostet, begann. Fast zeitgleich, nämlich Ende der 1980er-Jahre, wurde mitten im Herzen Istanbuls der Tarlabaşı Bulvarı in die historische Bausubstanz geschlagen. Viele alte Häuser des beliebten Amüsierviertels Beyoğlu mussten damals der vierspurigen Ausfallstraße weichen und der Stadtteil wurde unwiederbringlich zerschnitten. Während die Flaniermeile İstiklal noch immer mit Geschäften, Restaurants, Bars und Kinos lockt, waren die Häuser westlich der Schneise lange Jahre dem Verfall preisgegeben. Die ursprünglichen Besitzer der schmucken Altbauten, die Griechen und Armenier, waren zu diesem Zeitpunkt größtenteils fort.

In Tarlabaşı, dem vom Glitzerleben abgeschnittenen Teil Beyoğlus, befinden sich auch das Herz und das Gehirn der Unterwelt, durch die das Vergnügungsviertel gespeist wird: Drogendealer, Prostituierte, Diebe und manch sinistere Gestalten bevölkern die verschlungenen Gassen. Und diejenigen, die durch den Bürgerkrieg aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Scheinbar unbehelligt vom Sumpf der Großstadt sind die kurdischen Großfamilien in einer Mischung aus dörflicher Tradition und Großstadtleben hier beheimatet. Vielleicht sind es Mitglieder derselben Clans, vielleicht sind die Lebensrealitäten so unterschiedlich, dass sie sich nicht tangieren.

Die Männer von Tarlabaşı versuchen ihr Glück als Tagelöhner oder als fliegende Händler. Die einen verkaufen heißen Tee aus Thermoskannen, andere Reis oder Obst auf mobilen Verkaufsständen. Bei Regen bieten billige Regenschirme ein willkommenes Zubrot. Mit seinem neusten Roman „Eine Fremdheit in mir“ hat der Nobelpreisträger Orhan Pamuk diesen fliegenden Händlern von Tarlabaşı ein literarisches Denkmal gesetzt.

Wer aus Mardin stammt, setzt auf Miesmuscheln – dank der kurdischen Landflüchtigen haben diese den  Sprung vom Restaurant zum beliebten Fingerfood auf der Lichtermeile İstiklal geschafft. Junge Männer balancieren die Muscheln, die auf großen Blechtabletts gestapelt sind, auf ihren Köpfen aus den dunklen, schmalen Gassen von Tarlabaşı dorthin und bauen ihre mobilen Verkaufsstände auf. Im Schnitt verlangen sie 30 Cent pro Muschel, fast 200 kann ein Verkäufer pro Abend absetzen. Ihre Verdienstspanne ist um einiges größer als die ihrer Mütter und Schwestern, die die Spezialität zubereiten.

Nach getaner Arbeit wird der Teppich ausgerollt

Şehribans Aufgabe besteht darin, die Muscheln zu knacken. Davon hat sie eine tiefe Schwiele am Zeigefinger. Danach ruft sie so laut, dass es in der ganzen Straße widerhallt, nach ihrer Nachbarin Mihrivan, die im Keller des Nachbarhauses eine Muschelküche betreibt. Sie spricht nur einige wenige Worte Türkisch, ist Anfang 60, sieht aber aus wie 80. Über der geblümten  Haremshose  trägt sie einen Rock, dazu ein mit Strasssteinchen besetztes Shirt und das obligatorische geblümte Kopftuch mit Häkelrand. Sparsam ist sie und stolz zeigt sie ihr Haus: Drei Stockwerke. Für jeden Sohn eins. Dafür steht sie morgens auf, nimmt die Säcke mit den Muscheln in Empfang und überwacht in der provisorisch eingerichteten Küche im Keller schräg gegenüber deren Reinigung, verteilt sie zum Öffnen und bereitet die Füllung zu. Das Geheimnis ist die Würze. Eine Prise Zimt und eine Spur Heimweh nach Mardin, der orientalischen Steinstadt weit ab vom Meer. Auch der Bottich mit den Schalentieren, die Şehriban geöffnet hat, wird mühselig die steile Stiege hinab geschafft – seit das Ordnungsamt die Tür versiegelt hat, nutzen die Frauen ein Fenster als Einstieg.

Wenn die Arbeit mit den Muscheln getan ist, putzen Şehriban und ihre Nachbarinnen die Straße, legen einen Teppich aus und genießen einen Tee. Abends zünden sie oft vor einem der verfallenen Häuser in der Straße ein Holzfeuer an, auf dem sie mal Auberginen rösten, mal Hühnchen grillen, die am Morgen noch freudig gegackert haben.

In das glitzernde Viertel auf der anderen Seite des Boulevards geht Şehriban nie und auch die anderen Muschelfrauen zieht es nicht dorthin. Ihnen reicht ihr Leben, auch wenn es wenig Selbstbestimmung bietet. Anders steht es um Şehribans Töchter, die jetzt Anfang zwanzig sind. Sie träumen davon, in einer der schicken Ketten auf der İstiklal Mode verkaufen zu können oder von einem angenehmen Bürojob ­- und dieser Traum liegt gar nicht fern, denn sie haben einen Schulabschluss und die Rückendeckung ihrer Mutter. Bevor Şehribans Töchter den steilen Hügel zum Tarlabaşı Bulvarı hinaufgehen, um sich in das bunte Leben auf der anderen Seite zu stürzen, setzten sich ein paar Minuten zu ihrer Mutter, schnappen sich ein Messer und gehen ihr zur Hand. Wenn sie dann mit engen Jeans und schicken Frisuren aus der Sichtweite ihrer Mutter entschwinden, seufzt Şehriban: „Ich hätte auch gern gewusst, wie das ist, zu lesen. Aber  jetzt bin ich zu alt.“

 

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Von Veronika Hartmann, Istanbul

Veronika Hartmann lebt und arbeitet seit 2000 in Istanbul. Anfangs war sie Redakteurin bei kleinen deutsch-türkischen Zeitungen, später arbeitete sie beim ZDF und „DER SPIEGEL“ als Verstärkung mit. Heute schreibt sie Texte mit Schwerpunkt Kultur, Politik und Gesellschaft für deutschsprachige Zeitungen, unter anderem die „Neue Zürcher Zeitung“. Außerdem berichtet sie als Korrespondentin für N24 live aus Istanbul.

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Eva TempelmannMünster / Lima
Bis zu 40 Prozent der Frauen machen bei der Geburt ihrer Kinder gewaltvolle, teils traumatische Erfahrungen im Kreißsaal. Lena Högemann wirft in ihrem Buch „So wollte ich mein Kind nicht zur Welt bringen“ einen feministischen Blick auf die Geburtshilfe und zeigt Wege auf für mehr Selbstbestimmung.

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