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Deutsche in St. Petersburg
Eine wechselvolle Geschichte

22. Dezember 2015 | Von Pauline Tillmann
Lena (links) und Olga (rechts) Schneider versuchen das Deutschtum mit ihrer Folkloregruppe am Leben zu erhalten. Fotos: Pauline Tillmann

Die Geschichte der Deutschen in St. Petersburg reicht bis ins 18. Jahrhundert zurück. 1703 wurde die Stadt von Peter dem Großen errichtet, bereits 1706 gab es die erste deutsche Schule. Wir haben uns auf Spurensuche nach den deutschen Frauen von heute begeben. 

Von Pauline Tillmann, St. Petersburg

Wer mehr über die Geschichte der Deutschen erfahren möchte, wird im Herzen von St. Petersburg fündig. In der evangelisch-lutherischen St. Petri-Kirche befindet sich eine Dauerausstellung zu diesem Thema. Dort lernt man, dass das Kirchenschiff für 2.000 Besucher ausgelegt ist. Vor 200 Jahren haben sich dort regelmäßig deutsche Unternehmer, Wissenschaftler, Ingenieure, Architekten, Ärzte, Apotheker und Bankiers versammelt. St. Petersburg – das „Fenster zum Westen“ – war das Machtzentrum des Russischen Reiches und zeichnete sich damals vor allem durch seine Toleranz aus.

Das Stadtwappen von St. Petersburg, dem “Fenster zum Westen”.

Der erste Präsident der Akademie der Wissenschaften war 1724 Robert Lorenz Blumentrost. Er war der Leibarzt von Peter dem Großen, der für seinen dezidierten Westkurs bekannt war. Der Zar schätzte die deutschen Tugenden und lud vornehmlich Gelehrte, Offiziere und Baumeister nach St. Petersburg ein: Sie sollten das Gesicht seiner jungen Stadt prägen. Später sollte es am russischen Zarenhof Sitte werden, deutsche Prinzessinnen zu heiraten. Eine von ihnen, Prinzessin Sophie Charlotte Friederike Auguste von Anhalt-Zerbst, wurde später sogar Zarin.

Katharina die Große wird in Russland bis heute verehrt und sorgte mit ihrem Manifest von 1763 dafür, dass tausende weiterer Deutschen in das russische Riesenreich strömten. Sie lud Landwirte und Winzer ein, um die unendlichen Flächen Brachland zu beackern. Vor allem Mennotiten, strenggläubige Lutheraner, folgten ihrem Ruf gen Osten – vor allem weil sie 30 Jahre von der Steuer befreit wurden und keinen Kriegsdienst verrichten mussten.

Doch 1914 kippte das Verhältnis schlagartig. Als der Erste Weltkrieg im August 1914 ausbrach, sprach Zar Nikolai II. erstmals von Deutschland als dem „Erbfeind Russlands“. Deutsch-russische Familien wurden über Nacht zu „inneren Feinden“, und ausgegrenzt. Kirchen wurden geschlossen, viele Priester – auch Deutsche – erschossen. Doch der größte Einschnitt in der Geschichte von St. Petersburg war die „Leningrader Blockade“; als die deutsche Wehrmacht das damalige Leningrad 871 Tage belagerte. Hitlers Plan war, die Stadt auszuhungern. Dabei starben mehr als eine Million Menschen. Bis heute haben Überlebende mit den Spätfolgen zu kämpfen. Dazu gehört auch die 81-jährige Valentina Korobowa:

Ich erinnere mich vor allem an das Gefühl der Angst. Wie es sich anfühlt, Hunger zu haben, daran habe ich keine Erinnerung – und das obwohl ich Dystrophie hatte und ich gerade so gerettet werden konnte. Aber die Angst vor Bombardements und vor Erschießungen, die sitzt tief. Und sie geht nirgends hin. Deshalb ertrage ich es bis heute nicht, mir Filme über den Krieg anzuschauen.
Regelmäßig erzählt Valentina Korobowa (Mitte) von ihren Erfahrungen mit der so genanten “Leningrader Blockade”.

Alle Deutschen wurden über Nacht zu „Faschisten“ und feindlichen Spitzeln. Ein freundschaftliches Miteinander war nicht mehr möglich. 1941 wurden eine Million Sowjetdeutsche in Viehwagons hinter den Ural und nach Zentralasien deportiert. Viele von ihnen kamen beim Transport um, oder schufteten sich zu Tode. Diejenigen, die zurückblieben, hatten mit Repressionen im Alltag zu kämpfen. Damit das Geschehene nicht in Vergessenheit gerät, hat Valentina Korobowa vor 20 Jahren den „deutschen Club der Blockade-Überlebenden“ gegründet:

Es ist wichtig, die eigene Geschichte nicht zu vergessen und ohne Beschönigungen darüber zu schreiben, was war. Die Erinnerung von Kindern ist immer ehrlich und gefühlsbetont. Und das Gefühl ist besonders wichtig, weil es einfach nicht weggeht. Nicht zuletzt wollen wir, dass unsere Nachkommen die Wahrheit erfahren.

Sechs Bücher hat sie mit ihren Mitstreitern bereits publiziert, zwei davon sogar ins Deutsche übersetzt. Obwohl ihr manchmal Wörter entfallen, ist die zierliche Frau – bedenkt man die Strapazen in ihrem Leben – erstaunlich fit.

Immer wenn meine Mutter von meiner Großmutter erzählt hat und zwar davon, wie sie sich von allen anderen unterschieden hat… und der Unterschied bestand nur in der Nationalität… da hat sie gelächelt, ihr Gesicht hat sich komplett verändert. Das ging ihr also sehr nah – und das ist wohl auch der Grund, warum sie mir das so weitergegeben hat. Ich denke, weil sie so begeistert von diesem Deutschtum erzählte und ich das spürte, hat sie mein Interesse geweckt.

Während sich also viele zwischen 1914 und 1991 von ihren deutschen Wurzeln lossagten, versuchte Valentina Korobowa genau diese zu bewahren – und sogar ihren Kindern weiterzugeben. Gleichwohl haben sich die Deutschen im Laufe der Jahrhunderte zusehends assimiliert. Das heißt, heutzutage ist es fast unmöglich noch das „typisch Deutsche“ auszumachen. Besonders deutlich wird das in Strelna, einem Vorort von St. Petersburg. Vor 200 Jahren gab es hier bereits erste deutsche Siedlungen. 1996 wurde diese Tradition wiederbelebt. „Neudorf“ wurde mit Hilfe der Bundesrepublik errichtet, um deutschstämmige Aussiedler aus Kasachstan davon abzuhalten, nach Deutschland auszuwandern.

Die Folklore-Gruppe “Nemezkaja Sloboda” führt deutsche Tänze in St. Petersburg auf.

Mehr als 30 Millionen Deutsche Mark hat die Bundesregierung unter Helmut Kohl für den Bau der neuen Siedlung ausgegeben. Damit sollten nicht nur 40 Häuser errichtet werden, sondern ein Kindergarten, eine Schule, eine Kirche, ein medizinisches Zentrum, eine Bibliothek, ein Tante-Emma-Laden, eine Sporthalle und ein Clubhaus. Doch für all das blieb am Ende kein Geld mehr. Schuld daran war mutmaßlich: Korruption. Dabei ist das Deutschtum ohne Clubhaus kaum aufrechtzuerhalten. Das weiß auch Olga Schneider. Sie gründete eine Folkloregruppe und sagt voller Stolz: „Wir propagieren die deutsche Kultur. Damit ist gemeint, dass unsere Kinder ihre Wurzeln und ihre Vorfahren nicht vergessen.“

Olga Schneider ist eine adrette Frau Mitte 50, die vor allem dann aufblüht, wenn sie ihre Festtagstracht aus dem baden-württembergischen Badenweiler anziehen darf. Die Tänze „Waldegger“ und „Spinnradel“ möge sie besonders gern. Die Choreografie suche sie sich im Internet zusammen – oder anhand der Erinnerungen ihrer Großeltern. Etwa sechs Mal im Jahr tritt ihre Folkloregruppe „Nemezkaja Sloboda“ bei unterschiedlichen Festen in St. Petersburg auf. Auch ihre 33-jährige Tochter Ludmila ist dabei. Sie sagt, durch die Tänze komme man der Kultur näher: „Sie ähneln in keiner Weise russischen Tänzen, die ich ebenfalls sehr gut kenne. Stattdessen spürt man diese spezielle deutsche Note, die einem so viel Vergnügen bereitet.“

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Von Pauline Tillmann, Konstanz

Pauline Tillmann ist Gründerin und Chefredakteurin von DEINE KORRESPONDENTIN. 2011 bis 2015 war sie freie Auslandskorrespondentin in St. Petersburg und hat für den ARD Hörfunk über Russland / Ukraine berichtet. Zuvor hat sie beim Bayerischen Rundfunk volontiert. Pauline ist regelmäßig als Coachin, Beraterin und Speakerin im Einsatz. 2022 erschien ihr Buch „Lust auf Lokal – das Handbuch für Community-Journalismus“, außerdem hat sie das Buch „Frauen, die die Welt verändern“ herausgegeben. Mehr unter: http://www.pauline-tillmann.de.

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