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Dem Tod Raum im Leben geben
Sterbebegleitung in den Niederlanden

5. November 2025 | Von Sarah Tekath | 9 Minuten Lesezeit
Sterbe-Doula Lisa Berenfeld begleitete ihre sterbende Mutter und fand so ihre Berufung. Foto: Liza Berenfeld

Heute sterben die meisten Menschen in Krankenhäusern, Pflegeheimen oder Hospizen – in einer Umgebung, die eher medizinisch als menschlich geprägt ist. Doch langsam entstehen neue Wege, das Lebensende wieder persönlicher zu gestalten. Einer davon ist die Arbeit von Sterbe-Doulas wie Liza Berenfeld.

 

Zusammenfassung:

Liza Berenfeld begleitet als Sterbe-Doula Menschen auf ihrem letzten Weg – mit Nähe, Gesprächen und emotionaler Präsenz. Aus der Erfahrung mit dem Tod ihrer Mutter entwickelte sie ihre Berufung. In den Niederlanden ergänzt sie das medizinisch geprägte System um eine persönliche, nicht-klinische Perspektive. Ihr Ziel: den Tod zu enttabuisieren und als natürlichen Teil des Lebens erfahrbar zu machen. 

 

Von Sarah Tekath, Amsterdam 

Für Liza Berenfeld beginnt ein neuer Lebensabschnitt in dem Moment, als das Leben ihrer Mutter endet. Nicht nur, weil die damals Anfang 30-Jährige lernen muss, fortan ohne diesen geliebten Menschen zu leben, sondern auch, weil sie mit dem Tod ihre Berufung gefunden hat. „Der wunderschöne Tod meiner Mutter hat mich zur Sterbe-Doula gemacht“, sagt die Ukrainerin heute, die seit 2014 mit ihrem Mann und ihren Kindern in Den Haag lebt.  

Im Jahr 2019 bekommt ihre Mutter die Diagnose Brustkrebs. Im Februar 2022, als Russland den Rest der Ukraine überfällt, verschlechtert sich ihr Zustand erheblich. Berenfeld und ihr Mann fahren mit dem Auto zur Grenze und holen die Mutter ab. Sie wird im Kofferraum, mit dicken Decken ausgelegt, in die Niederlande gebracht, denn sitzen kann sie nicht mehr.  

In den wenigen Wochen, die ihr im Krankenhaus in Den Haag bleiben, ist Berenfeld ständig bei ihr. „Wir sind Slawinnen“, erklärt sie, „wir sind sehr körperlich, wir haben viel gekuschelt, uns gestreichelt und umarmt.“ Rückblickend ist sie heute dafür sehr dankbar, denn noch Jahre danach kann sie sich erinnern, wie sich der Körper ihrer Mutter angefühlt hat.  

Viele intime Fotos sind heute auf dem Instagram-Account von Sterbe-Doula Liza Berenfeld zu sehen. Einerseits, um den Prozess des Sterbens wieder sichtbar zu machen, andererseits aber auch für sie selbst, als Erinnerungsstütze. „Damals ist alles so schnell gegangen. Heute bin ich dankbar, dass ich dieses Foto-Tagebuch habe.“ 

Liza Berenfeld begleitet Menschen auf ihrem letzten Weg – mit Nähe und dem Mut, über den Tod zu sprechen. | Foto: Privat

Nähe statt Angst 

Sechs Monate nach dem Tod ihrer Mutter beginnt sie online eine Ausbildung zur Sterbe-Doula bei einer Organisation in den USA. Eine offizielle Ausbildung gibt es in den Niederlanden nicht. Parallel arbeitet sie ehrenamtlich in einem Hospiz. Dort erlebt sie, wie groß das Bedürfnis nach Nähe ist.  

„Viele Menschen sind am Ende ihres Lebens allein. Sie haben Angst, wollen reden oder einfach spüren, dass jemand da ist“, sagt sie. Sie erzählt von einem Mann, der sich schämte, dass sein Körper im Sterben nicht mehr „funktionierte“. Vor seinen Kindern wollte er sich nicht zeigen. Doch im Gespräch mit ihr konnte er loslassen. „Danach ist er oft ganz ruhig eingeschlafen.“ 

Für Berenfeld ist klar: Niemand soll allein sterben müssen. „Früher war Sterben ein natürlicher Teil der Gemeinschaft, heute haben wir es an Institutionen abgegeben. Dadurch verlieren wir die Erfahrung – und das macht uns Angst.“ Das führe auch dazu, dass nicht nur der Prozess des Sterbens im Hintergrund stattfinde, sondern auch der Prozess des Trauerns. Viele, so Berenfeld, trauern heute allein, oft in Einsamkeit. 

Doch Berenfeld glaubt an die Bedeutung ihrer Rolle als Zeugin, sowohl vom Sterbeprozess als auch allen damit einhergehenden Gefühlen, Ratlosigkeit und Hilflosigkeit. Sie sieht sich als jemand, der aushält, dass Klient*innen Worte fehlen, dass Emotionen überwältigen und dass manchmal nur Stille bleibt. Gleichzeitig sieht sie sich als helfende Hand. „Irgendwann in der Trauer kommt der Moment, wo wir glauben, dass wir jetzt wirklich nicht mehr tiefer fallen können. Dann bin ich da und helfe beim Aufstehen.“ 

Seit Mai 2024 arbeitet Berenfeld selbständig. Sie begleitet Menschen individuell – in Gesprächen, über Tage oder auch über Wochen. Darüber hinaus organisiert sie öffentliche Gesprächsrunden zum Thema Sterben, Trauer und Abschied. Ihr Honorar: 100 Euro für 90 Minuten, mit der Möglichkeit zu Nachlässen oder kostenloser Begleitung. Sterben betrifft uns alle, deshalb soll es für jede*n zugänglich sein, erklärt sie auf ihrer Webseite. Sie betreut sowohl Personen, die eine Diagnose bekommen haben und wissen, dass ihr Leben bald enden wird, aber auch Menschen, die gesund sind, aber jemandem nahestehen, der*die sich im Sterbeprozess befindet. 

Sterbehilfe – ein eigenes Kapitel 

In den Niederlanden ist das Thema Sterben nicht nur individuell, sondern auch politisch und juristisch geprägt. Das Land war 2002 das erste weltweit, das Sterbehilfe legalisierte. Ärzt*innen dürfen seitdem Patient*innen beim selbstbestimmten Lebensende helfen – unter strengen Auflagen. Voraussetzungen sind ein unerträgliches Leiden ohne Aussicht auf Besserung, ein freier und wohlüberlegter Wunsch und die Bestätigung durch eine zweite unabhängige ärztliche Meinung.  

Meist erfolgt die Durchführung durch eine Infusion: zunächst ein Schlafmittel, dann ein Präparat, das den Herzstillstand herbeiführt. Die gesellschaftliche Akzeptanz ist hoch. Laut Statistikamt „CBS“ befürworten 87 Prozent der Niederländer*innen Sterbehilfe unter bestimmten Bedingungen. Besonders hoch ist die Zustimmung unter Menschen ohne religiöse Bindung. Mehr als die Hälfte der Befragten kann sich vorstellen, selbst einmal Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. 

Doch es gibt auch Kritik. Ärzt*innen sind nicht verpflichtet, Sterbehilfe zu leisten. Sie können Anträge ablehnen, müssen Patient*innen dann aber an Kolleg*innen verweisen. Zudem unterliegt jeder Fall einer strengen Kontrolle durch die regionale Überprüfungskommission. Bei Unsicherheiten kann er an die Staatsanwaltschaft gehen. 

Tabus brechen 

Für viele Ärzt*innen ist diese Verantwortung belastend. Eine 2019 veröffentlichte Studie der Freien Universität Amsterdam und dem Akademischen Medizinischen Zentrum ergab, dass medizinisches Personal häufig Druck empfindet – durch Patient*innen, Angehörige oder die Angst, nicht alle Kriterien korrekt erfüllt zu haben. Zwar sind strafrechtliche Verfahren selten, doch die Möglichkeit allein erzeugt Unsicherheit. 

Berenfelds Arbeit unterscheidet sich grundlegend von der ärztlichen Perspektive. Sie hat keine medizinischen Kompetenzen, ihr Fokus liegt allein auf dem psychischen, emotionalen und spirituellen Wohlbefinden. Sie spricht bewusst von Klient*innen statt von Patient*innen. 

Eine von ihnen ist die 27-jährige Catharina, die eigentlich anders heißt. Ihr Vater starb, als sie noch ein Kind war. Viele Gefühle blieben unverarbeitet. Über Instagram stieß sie auf eine Gesprächsrunde von Berenfeld. „Unsere Gesellschaft hat so viel Angst vor dem Tod. Ich wollte das Thema endlich ohne Tabus und mit einem erwachseneren Blick angehen.“ 

Sterben als Teil des Lebens 

Sie erlebte eine offene, intime Atmosphäre. „Es wurde deutlich angegeben, wann Trösten nicht nötig war oder wann eine Umarmung gewünscht wurde. Alles hatte seinen Platz, denn es ist normal und gehört zum Prozess.“ In den Gesprächen ging es nicht nur um Todesfälle, sondern auch um andere Formen des Abschieds, etwa den Übergang in den Ruhestand.  

Auffällig sei, dass fast nur Frauen teilgenommen hätten. „Vielleicht fällt es Männern schwerer, diese Art von Verletzlichkeit vor anderen zuzulassen.“ Catharinas Meinung nach kann es auch ein Vorteil sein, dass es keine persönliche Verbindung zwischen einer Sterbe-Doula und einer*m Klient*in gibt. Sie vermutet, dass sonst Emotionen zum Schutz der anderen Person zurückgehalten werden könnten, um sie nicht zu belasten oder zu triggern. 

Der Tod bleibt in unserer Gesellschaft ein heikles Thema. Zwischen individueller Begleitung durch Doulas und den strengen gesetzlichen Regelungen zur Sterbehilfe zeigt sich, wie sehr wir ringen, ihm einen Platz zu geben.Für Liza Berenfeld ist die Antwort einfach: Sie will das Sterben wieder in die Mitte des Lebens holen. „Sterben ist nicht das Gegenteil von Leben“, sagt sie. „Es ist ein Teil davon.“


 

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Von Sarah Tekath, Amsterdam

Sarah Tekath kommt ursprünglich aus dem Ruhrgebiet, hat in Prag gelebt und schrieb dort als Freie für die Prager Zeitung und das Landesecho. Im Jahr 2014 zog sie nach Amsterdam, wo sie unter anderem für das journalistische Start-up Blendle arbeitete. Seit 2016 ist sie selbständige Journalistin und hat sich in den vergangenen Jahren vor allem auf die Produktion von Podcasts spezialisiert.

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