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Deine Mutter am Mischpult
Frauen in der DJ-Industrie

9. Juni 2021 | Von Sarah Tekath
Während der Corona-Zeit macht Esther Goedvolk daheim Musik. Foto: Sarah Tekath

Als junge Frau legt Esther Goedvolk in verschiedenen Clubs in den Niederlanden auf. Heute ist sie Mitte 50 und will wieder Musik machen: als „DJ Je Moeder“ – übersetzt „DJ Deine Mutter“. Doch der Weg in die Industrie ist schwer, auch für die Künstlerinnen der Gruppe „Lady Joker“. Denn: Diese Welt ist immer noch eine Männerdomäne.

Sarah Tekath, Amsterdam

Armin van Buuren. Tiësto. Afrojack. Die Niederlande sind berühmt für ihre DJs. Frauen sind allerdings so gut wie keine dabei. Es gibt sie zwar – aber den weltweiten Ruhm ihrer männlichen Kollegen haben sie nicht erreicht. Und ab einer bestimmten Altersgruppe scheint es mit dem Erfolg ganz vorbei zu sein.

Doch davon will sich Esther Goedvolk nicht abhalten lassen. Die 56-jährige Amsterdamerin legte in den Achtzigern mit 18 Jahren zum ersten Mal in einem Club in Gouda auf. „Der DJ sprach mich an, ob ich es nicht versuchen wolle“, erinnert sie sich. „An meinem ersten Abend habe ich fünf Seiten mit Liedern mitgebracht, die ich spielen wollte“, lacht sie.

 

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Damals habe sie Wertmarken für Getränke bekommen statt eines Honorars.  „Wenn jemand einen bestimmten Musikwunsch hatte, habe ich mich dafür auch in Bier bezahlen lassen“, schmunzelt sie. In dieser Zeit habe sie jedes Wochenende in drei verschiedenen Clubs in Gouda gearbeitet. So macht sie ein paar Jahre weiter, doch mit 21 beginnt sie ein Studium in Amsterdam und fängt schließlich mit Anfang 30 bei niederländischen Fernsehsendern als Produzentin an. Sie heiratet und gründet eine Familie. Für die Musik bleibt ihr keine Zeit mehr.

Vier Jahre Schmerzen

Mit 48 Jahren trifft Goedvolk ein heftiger Schicksalsschlag: 2013 wird bei ihr ein Knochentumor in einem Wirbel im unteren Rücken diagnostiziert. Sie wird operiert, sitzt sechs Monate im Rollstuhl. „Ich musste erst wieder laufen lernen“, sagt Goedvolk. Doch auch danach bleiben starke Schmerzen. „Bis Januar 2016 habe ich mehrmals täglich Morphium-Tabletten genommen“, erinnert sie sich. Endlich schmerzfrei will sie ihr Leben wieder aufnehmen und für sie ist klar: Sie will Musik machen. Im Oktober 2018 beginnt sie ihre neue Karriere als DJ „Je Moeder“ – DJ „Deine Mutter“.

Das von ihrer Tochter gemalte Porträt benutzt Esther Goedvolk als ihr DJ-Logo (Foto: Sarah Tekath).

Schon ein halbes Jahr nach der Namensfindung hat sie durch einen Bekannten ihren ersten bezahlten Auftritt bei einer Geburtstagsparty in einem Restaurant. Es folgen weitere Gigs, die ihr Kontakte aus DJ-Kursen vermitteln, die sie besucht, oder die sie über Facebook-Gruppen findet. Außerdem hat sie wöchentlich Live-Auftritte bei der audiobasierten Social Media-App „Clubhouse“ und sorgt Ende März 2021 bei einer Veranstaltung für Menschen mit Demenz für die Musik.

Im Mai 2021 ist sie für die Neueröffnung eines Amsterdamer Theaters gebucht. Das Feedback der Zuhörer*innen sei immer besonders positiv, erklärt sie. Negativkommentare bezüglich ihres Alters habe sie noch nicht erlebt. Für die Zukunft habe sie große Pläne. „Ich möchte hauptberuflich als DJ arbeiten“, sagt sie. „Ich habe noch nicht auf Festivals gespielt – aber das ist mein Ziel. Lowland wäre schon toll.“

Lady Joker: Das Performance-Trio

„Lowland“ ist eines der größten Festivals in den Niederlanden. Der musikalische Fokus liegt auf Rock, Pop, Dance, Hip-Hop und Alternative, es gibt aber auch Randprogramme für Theater, Lesungen, Workshops und Kino. Drei Frauen, die dort bereits aufgetreten sind, sind Laura Sestri, Liv Sublime und India Zahra. Zusammen sind sie „Lady Joker“, ein weibliches Performance-Trio, das seit 2019 besteht. Sie spielen eine interdisziplinäre Show mit elektronischer Musik, Theater, Tanz, Gesang, Poesie, Video-Projektionen und verrückten Kostümen.

Laura Sestri bei einer Performance beim Festival “Into The Woods” (Credit: Michiel Toon / Lady Joker).

Liv Sublime kommt aus Israel. Hier trifft sie die niederländische Sängerin und Kostümdesignerin Laura Sestri ­– die beiden fangen an, zusammen Musik zu machen. Daraus entwickelt sich auch eine Liebesbeziehung. Nach einigen Jahren in Tel Aviv ziehen sie nach Amsterdam und begegnen dort Anfang 2019 Dichterin und Videomacherin India Zahra.

„Zu dem Zeitpunkt war ich gerade erst dabei, in die Welt von Elektromusik einzutauchen“, sagt diese. „Später haben die beiden mich bei einer Veranstaltung gesehen, wo ich eines meiner Gedichte präsentiert habe. Dabei habe ich offenbar so einen guten Eindruck gemacht, dass sie mich zu einer gemeinsamen Performance eingeladen haben.“ Das sei für sie der Moment gewesen, als der Funke übergesprungen sei.  

Innerhalb von zwei Monaten als DJ angelernt

Anfang Juni 2019 reisen „Lady Joker“, die zu diesem Zeitpunkt zu Dritt eine Beziehung führen, für ein Musik-Event nach Davos. „Ich dachte, ich würde dort nur als Tänzerin dabei sein. Ich tanze seit zehn Jahren Ballett, wollte aber lernen, als DJ Musik zu machen,“ so Zahra. Liv Sublime habe sie in Davos gefragt, ob sie es jetzt gleich lernen wolle – im Hotelzimmer.

„Sie hat mir kurz erklärt, wofür die ganzen Knöpfe sind und ist dann für ein paar Minuten aus dem Zimmer gegangen. Dann sagte sie mir, dass ich noch am selben Abend meinen ersten Gig haben würde“, erinnert sich die heute 20-Jährige. Sie habe das erst für einen Scherz gehalten, aber zwei Stunden später habe sie sich hinter professionellem DJ-Equipment auf einer Terrasse inmitten der Bergkulisse wiedergefunden. „Ich hatte wahnsinnige Angst, aber ich dachte auch: Okay, das muss ich jetzt einfach machen. So eine große Chance kommt nicht wieder.“

Sublime sei zum Glück die ganze Zeit dabei gewesen. „Ich dachte: ‚Oh Gott, jetzt habe ich die Verantwortung hier. Dreh jetzt einfach weiter an den Knöpfen. Die Musik muss ja weitergehen.‘ So habe ich zweieinhalb Stunden lang gespielt.“ Innerhalb von knapp zwei Monaten lernt Sublime Zahra als DJ an und schon im Sommer 2019 ist das Trio auf den Festivals „Into The Woods“ und „Lowland“ gebucht.

“Lady Joker” verbinden bei ihren Auftritten Musik, Tanz, Video, Poesie und Kostüme (Foto: Michiel Toon / Lady Joker).

„Wir konnten von unserer Kunst leben,“ erklärt Liv Sublime, „auch wenn wir unseren Lebensstandard ein wenig einschränken mussten.“ 2020 hätte es weitergehen sollen – aber dann kommt die Corona-Pandemie. „Dieser Sommer wäre der Wahnsinn für uns gewesen“, sagt die 35-jährige Sestri. Bis die Corona-Krise vorbei ist, studiert India Zahra in Dänemark und Laura Sestri, die nebenbei modelt, arbeitet in der Schweiz.

Frauen in der DJ-Welt

Trotzdem bemerken „Lady Joker“, dass das Geschlecht in der Musikindustrie einen Unterschied macht. „Für mich ist es schwierig. Schließlich habe ich die Hälfte meines Lebens mit einem anderen Geschlecht verbracht. Deswegen möchte ich hier nicht für Frauen sprechen“, sagt Liv Sublime, die in Tel Aviv eine Ex-Frau und zwei Kinder hat. Es gäbe viele talentierte Musikerinnen, aber der Einstieg sei für sie schwerer, denn die Branche sei in den Händen von Männern. Sie wünsche sich mehr Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern, denn durch Frauen würde ein anderer „Sound“ hinzukommen, so die 43-Jährige.

Die Zahlen geben ihr Recht, denn 2015 traten beim „Lowland“-Festival gerade einmal 17 Gruppen mit mindestens einer Musikerin auf, dagegen waren es 114 rein männliche Acts. Nach Untersuchungen des niederländischen Fernsehsenders NPO beträgt der Frauenanteil 2016 sogar nur sieben Prozent. 2017 treten als Künstlerinnen allein die Rocksängerin „The Pretty Reckless“, die niederländische Kabarettistin Kiki Schippers und das schwedische Schwestern-Indie-Pop-Duo „First Aid Kit“ auf.

2018 ist auf der Hauptbühne während des gesamten Festival-Wochenendes nur eine Frau zu sehen; die Sängerin „Dua Lipa“. Auf Nebenbühnen sind noch Punklegende Patti Smith und die Techno-DJs „Charlotte De Witte“ aus Belgien und „Dr. Rubinstein“ aus Deutschland dabei. Trotzdem machen Künstlerinnen in dem Jahr nur acht Prozent aus, wie NPO errechnet. Der „Lowland“-Programm-Manager Bertus de Blaauw erklärt dies gegenüber dem Sender mit der begrenzten Auswahl an Künstlerinnen, die zum Festivaltermin verfügbar seien.

Innerhalb von wenigen Wochen lernte India Zahra die Arbeit als DJ (Foto: Tim ten Cate).

„Frauen müssen sich erst beweisen“

Auch India Zahra hat schon erlebt, dass sie als Musikerin unterschätzt wurde. „Es kam vor, dass Männer von meinem technischen Wissen überrascht waren und mich gefragt haben, ob ich mir das alles selbst erarbeitet habe“, erklärt sie. Männer würden in der Industrie automatisch ernst genommen werden, Frauen hingegen müssten sich erst beweisen. „Aber ich will nicht die Opferrolle spielen. Ich will nicht sagen, dass unsere Gesellschaft mir etwas nicht ermöglicht hat, weil ich eine Frau bin. Stattdessen will ich umso mehr zeigen, wer ich bin und was ich kann.“

In einem Club in Berlin habe sie deshalb eines Abends proaktiv den Organisator einer Party angesprochen, ob sie in einem der leeren Räume auflegen dürfe. Nach den sechs Stunden sei er beeindruckt gewesen, habe aber zugegeben, eigentlich nur zugestimmt zu haben, weil sie so ein hübsches Funkeln in den Augen gehabt habe. „Es war sicher eine gute berufliche Chance für mich. Aber ich habe mich auf jeden Fall weniger ernst genommen gefühlt.“

Den eigenen Platz beanspruchen

Trotzdem sei es eine Chance, argumentiert Liv Sublime. „Jede Möglichkeit sollte genutzt werden. Beim ersten Mal nehmen sie dich wegen deines Aussehens und danach wegen deines Talents. Um mehr Frauen in die DJ-Industrie zu bringen, müssen wir selbst diese Plätze beanspruchen. Wir dürfen nicht warten, bis sie uns jemand zuteilt. Das wird nicht passieren“, sagt sie.

Und das tut auch Esther Goedvolk alias DJ „Deine Mutter“. Von ihr haben „Lady Joker“ bisher zwar noch nicht gehört, sind aber begeistert von dem, was sie tut. „Ich kenne sie zwar nicht, aber von dem, was ich jetzt höre, will ich sie auf jeden Fall kennenlernen. Vielleicht können wir ja zusammen bei einem Event spielen“, freut sich Liv Sublime. „Wir müssen eine Community von Frauen bilden und uns gegenseitig unterstützen.“

Eine Idee, die Goedvolk sicher gefällt, denn auch sie will gerne mehr Frauen am Mischpult sehen. „Ich denke nicht, dass wir das über Nacht erreichen können. Trotzdem wäre es schön, in Zukunft ein Festival zu haben, bei dem nur Frauen auflegen,“ überlegt sie, „von mir aus können wir gleich anfangen.“

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Von Sarah Tekath, Amsterdam

Sarah Tekath kommt ursprünglich aus dem Ruhrgebiet, hat zwei Jahre in Prag gelebt und schrieb dort als Freie für die Prager Zeitung und das Landesecho. Im Jahr 2014 zog sie nach Amsterdam, wo sie unter anderem für das journalistische Start-up Blendle arbeitete. Seit 2016 ist sie selbständige Journalistin und kümmert sich, gemeinsam mit Helen Hecker, um unseren Instagram-Kanal.

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Eva TempelmannMünster / Lima
Bis zu 40 Prozent der Frauen machen bei der Geburt ihrer Kinder gewaltvolle, teils traumatische Erfahrungen im Kreißsaal. Lena Högemann wirft in ihrem Buch „So wollte ich mein Kind nicht zur Welt bringen“ einen feministischen Blick auf die Geburtshilfe und zeigt Wege auf für mehr Selbstbestimmung.

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