Lerne inspirierende Frauen aus der ganzen Welt kennen.

Lerne inspirierende Frauen weltweit kennen.

„Wir überstehen das!“
Breslau ist Europäische Kulturhauptstadt 2016

20. Januar 2016 | Von Pauline Tillmann
Die Unternehmerin Viola Wojnowski will ein Bürgerhaus renovieren und zum Kultur-Treffpunkt umwandeln. Fotos: Pauline Tillmann

Die ersten Amtshandlungen der neuen polnischen Regierung unter Beata Szydlo sind in Europa auf lautstarke Kritik gestoßen. Der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, bezeichnete Polen jüngst als „gelenkte Demokratie nach Putins Art“. Doch die Breslauer wollen sich ihr Kulturhauptstadtjahr davon nicht vermiesen lassen.  

Von Pauline Tillmann, Breslau / Wroclaw

Am vergangenen Wochenende ist das Europäische Kulturhauptstadtjahr im niederschlesischen Breslau feierlich eröffnet worden. Wenn man durch die Stadt flaniert, merkt man wie sich die Einwohner über den Titel freuen, denn: Das Programm bietet viel Kultur für die „normale Bevölkerung“. So auch für Malgorzata Urlich-Kornacka, die einst Germanistik und Russistik studiert hat. Heute führt sie vornehmlich Reisegruppen durch die Stadt und erzählt ihnen von Wroclaws wechselvoller Geschichte, das bis 1945 von Deutschen bevölkert war und Breslau hieß. Sie erklärt:

Malgorzata Urlich-Kornacka führt vor allem deutsche Gruppen durch die Stadt.

„Wir freuen uns unglaublich über den Titel, weil ihn die Stadt wirklich verdient hat. Bis Ende des Jahres sind mehr als 1.000 Veranstaltungen geplant, vor allem am Wochenende hat man die Qual der Wahl. Die Gesetze der neuen Regierung machen uns zwar alle Sorgen, aber Warschau ist weit weg. Wir lassen uns nichts verbieten, auch nicht das umstrittene Theaterstück von Elfriede Jellinek. Im Gegenteil, es ist sogar auf Monate hin ausverkauft.“

Am meisten freut sich Malgorzata Urlich-Kornacka auf die „Spanische Nacht mit Carmen – Zarzuela Show“, eine Megaproduktion der städtischen Oper. Breslau trägt den Titel „Europäische Kulturhauptstadt 2016“ gemeinsam mit der spanischen Stadt San Sebastian. Die Aufführung soll daran erinnern und ist für den 18. Juni geplant. Mehr als 500 Künstler sollen vor 40.000 Besuchern spielen. Der Lieblingsplatz der Stadtführerin ist der zentrale Marktplatz, „Rynek“ genannt: „Dort treffen sich alle, dort blüht das Leben – und das hat nichts Künstliches, sondern ist wirklich so.“

Auf dem Marktplatz befindet sich auch das Büro des Stadtpräsidenten, Rafal Dutkiewicz. Er hat das Amt seit 2002 inne, in den Achtziger Jahren engagierte er sich in der Solidarnosc. In dieser Zeit entstand auch die politisch-künstlerische Bewegung „Orange Alternative“, an die bis heute mehr als 350 Bronzezwergen in der ganzen Stadt erinnern. Schließlich kämpften nirgends sonst die Menschen so leidenschaftlich gegen den Kommunismus. Nirgends sonst war die Zahl der zeitweise Inhaftierten höher. Die Breslauer fühlten sich schon immer als Europäer und sie waren schon früh bereit zur Versöhnung. So schrieb Boleslaw Kardinal Kominek im Jahr 1965 an seine deutschen Amtsbrüder: „Wir vergeben und wir bitten um Vergebung.“

Gleichzeitig gibt es in Polen besonders viele starke Frauen. Während des Sozialismus mussten sie viel entscheiden. Heute gibt es zwar immer mehr junge Manager, die Führungspositionen einnehmen, aber einige Frauen spielen nach wie vor eine zentrale Rolle – so wie die Unternehmerin Viola Wojnowski. Die 49-Jährige plant und realisiert mit ihren 70 Mitarbeitern vornehmlich Einkaufshäuser. Vor einigen Monaten hat sie ein barockes Bürgerhaus im Zentrum der Stadt, in der Nähe des sogenannten Salzmarktes, gekauft. 2016 will sie es renovieren lassen. In Zukunft soll es ein Ort der Begegnung und der Kultur werden. Viola Wojnowski sagt:

Das Barockhaus am Plac Solny 4 wird für drei Millionen Euro grundsaniert.
Das Barockhaus ist der Gegenpol zu den Einkaufszentren, die – das muss man zugeben – in der Regel nicht besonders schön sind. Es war ein Schnäppchen, denn es wollte niemand so richtig haben. Dabei hatte ich das Gefühl, dass es mich anschreit: Rette mich! Also habe ich mich spontan dazu entschieden, es bei einer Versteigerung für zwei Millionen Euro zu erstehen. Als ich die Renovierungspreise gesehen habe, war ich zwar nicht mehr so euphorisch, aber es beflügelt mich nach wie vor. Denn die Kultur ist wie ein Motor für mich. Und wenn ich Breslau in so einer schönen, internationalen Stimmung sehe, mit vielen Gästen aus dem In- und Ausland, dann bin ich noch mehr davon überzeugt, dass es die richtige Entscheidung war. Das siebenstöckige Haus gehörte bis 1943 einer jüdischen Familie und heißt deshalb „Oppenheim Haus“. Allerdings hat diese Bankiersfamilie nichts mit den Frankfurter Oppenheims zu tun. Während des Zweiten Weltkrieges sind 80 Prozent der Stadt zerstört worden, aber dieses Haus ist wundersamerweise verschont geblieben. Wir möchten es ab Herbst 2016 für Ausstellungen und Projekte nutzen. Ich bin persönlich stark mit Berlin verbunden – mein zwölfjähriger Sohn Viktor Alexander geht dort auf eine englischsprachige Schule – und auch Breslau hat eine starke Verbindung zu Berlin. Ich glaube, diese Brücke kennen viele gar nicht und ich möchte das ändern. Es geht nicht darum, die Geschichte zu wiederholen, sondern die europäische Gesinnung Breslaus hervorzuheben. Deshalb habe ich eine Stiftung gegründet und werde das Barockhaus 2016 renovieren. Wir arbeiten dabei mit dem Görlitzer Fortbildungszentrum für Handwerk und Denkmalpflege zusammen. Das sind Spezialisten, die polnischen Konservatoren den Begriff Denkmalschutz näher bringen sollen. Denn in Polen ist Denkmalschutz weitgehend unbekannt. Wenn die Renovierung, die schätzungsweise drei Millionen Euro kosten wird, abgeschlossen ist, sollen sich dort auch philantrope Vereine und Firmen ansiedeln. Denn ich bin vom Mäzenatentum in Deutschland fasziniert, davon, dass einzelne Unternehmer die Kultur fördern und – nicht wie in Polen – ausschließlich der Staat. Ich lebe seit 14 Jahren in Breslau und Berlin gleichzeitig. Wenn ich in der einen Stadt bin, vermisse ich die andere. Ich liebe Berlin vor allem, weil es ein unglaubliches Charisma besitzt. Es ist eine sehr freie Stadt, sehr offen, nie konservativ oder bürgerlich. Es gab ja auch eine Zeit, in der David Bowie dort gelebt hat. Ich finde, das spricht für sich. Ich habe mich dort jedenfalls nie fremd gefühlt, auch wenn die Berliner in der Regel nicht besonders freundlich sind. Deshalb weiß ich gar nicht, wo ich mich mehr Zuhause fühle, ehrlich gesagt. Ich denke, ich bleibe ein ewiger Wanderer zwischen den Welten. Berlin eignet sich jedenfalls prima, um Kraft zu tanken. Dass sich Breslau als Europäische Kulturhauptstadt 2016 bezeichnen darf, hat nicht nur eine große Bedeutung für die Stadt, sondern auch für unser Land. Es ist die beste Antwort darauf, wenn man sich fragt, ob Polen eigentlich noch europäisch tickt. Es kommen schwere Zeiten auf uns zu, schließlich stehen große Umwälzungen in ganz Europa an. Aber ich bin optimistisch, dass die Situation nicht eskalieren wird. Gleichwohl muss ich sagen, dass ich mich im Moment in Polen nicht besonders gut fühle. Ich hoffe sehr, dass wir diese schwierige Phase bald überwinden werden. Viele Wähler, die für die nationalkonservative Partei „Recht und Gerechtigkeit“ von Kaczynski gestimmt haben, sind jung und können sich nicht an die Zeit vor 2007 erinnern. Doch ich bin sicher, sie werden irgendwann aufwachen.

Es ist unübersehbar, dass sich Breslau als europäische, weltoffene Stadt präsentieren will. Gleichzeitig regiert in Warschau eine Regierung, die Gesetze im Eiltempo beschließt, um den Rechtsstaat auszuhebeln. Breslaus Stadtpräsident Rafal Dutkiewicz betont: „Nationalismen sind von gestern, Europa ist unsere Zukunft“ – und bezieht sich damit wiederum auf den Erzbischof Kominek. Dabei stellt der wachsende Nationalismus derzeit europaweit ein großes Problem dar.

Auch in Breslau demonstrierten mehr als 10.000 Anhänger der Gruppierung „Nationales Wiedererwachen Polens“ Anfang November 2015. Das „National-Radikale Lager“ verbrannte wenig später auf dem Marktplatz eine Judenpuppe. Der parteilose Dutkiewicz hat dagegen Anzeige erstattet und fordert als einziger polnischer Politiker ein Verbot nationalistischer Organisationen. Bislang hat sich die Regierung in Warschau nicht das Kulturhauptstadtjahr eingemischt. Aber das Jahr ist bekanntlich noch jung.

 

 Zahlen und Fakten über Breslau / Wroclaw:

640.000 Einwohner

140.000 Studenten

Zentrum der Provinz Niederschlesien

2007 – 2015 Vorbereitung für das Europäische Kulturhauptstadtjahr

1.000 Veranstaltungen im Jahr 2016 geplant

50 verschiedene Festivals

500 Millionen Euro Ausgaben für Vorbereitung des Kulturhauptstadtjahres (inklusive Infrastrukturprojekte) – davon 30 Prozent aus EU-Fördertöpfen, 70 % aus städtischem Haushalt

50 Millionen Euro zusätzliche Ausgaben im Jahr 2016 – davon 50 % aus polnischem Staatsbudget, 50 % aus städtischem Haushalt

3 Millionen Touristen jährlich, Verdopplung bis Ende 2016 auf 6 Millionen geplant

120 Brücken, deshalb bekannt als „Venedig des Ostens“

Einer der Austragungsorte der Fußball-Europameisterschaft 2012 (neben Warschau, Danzig und Posen)

Deutsche Partnerstädte: Dresden, Wiesbaden 

 

Disclaimer: Autorin Pauline Tillmann befand sich auf Einladung der Polnischen Botschaft vom 15. bis 18. Januar 2016 in Breslau. Sie hat auf Facebook, Twitter und Snapchat von den Feierlichkeiten berichtet.

image/svg+xml

Von Pauline Tillmann, Konstanz

Pauline Tillmann ist Gründerin und Chefredakteurin von DEINE KORRESPONDENTIN. 2011 bis 2015 war sie freie Auslandskorrespondentin in St. Petersburg und hat für den ARD Hörfunk über Russland / Ukraine berichtet. Zuvor hat sie beim Bayerischen Rundfunk volontiert. Pauline ist regelmäßig als Coachin, Beraterin und Speakerin im Einsatz. 2022 erschien ihr Buch „Lust auf Lokal – das Handbuch für Community-Journalismus“, außerdem hat sie das Buch „Frauen, die die Welt verändern“ herausgegeben. Mehr unter: http://www.pauline-tillmann.de.

Alle Artikel von Pauline Tillmann anzeigen

image/svg+xml
Eva TempelmannMünster / Lima
Bis zu 40 Prozent der Frauen machen bei der Geburt ihrer Kinder gewaltvolle, teils traumatische Erfahrungen im Kreißsaal. Lena Högemann wirft in ihrem Buch „So wollte ich mein Kind nicht zur Welt bringen“ einen feministischen Blick auf die Geburtshilfe und zeigt Wege auf für mehr Selbstbestimmung.
Giorgia GrimaldiBerlin / Marseille
Migration und Asyl, kaum ein anderes Thema wird in Deutschland so heiß diskutiert. Die Kontroversen nehmen zu, Fronten verhärten sich. Doch wie schaffen wir es, als Gesellschaft zueinander zu finden? Ein Berliner Verein zeigt, wie es gehen könnte. 
Carina RotherTaipei
Die Amtszeit der ersten Präsidentin Taiwans geht zu Ende. Tsai Ing-wen regierte in einer Zeit, als Chinas Druck auf die demokratische Insel stetig stieg. Sie kämpfte für Taiwans Sichtbarkeit in der Welt – und hat mit ihrer progressiven Politik das Land geprägt.

Newsletter Anmeldung

Trage dich jetzt für unseren kostenfreien Newsletter ein, der dich jede Woche mit aktuellen Infos zu neuen Artikel und mit Neuigkeiten rund um DEINE KORRESPONDENTIN versorgt!

Abonniere unseren kostenfreien Newsletter