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Zur Arbeit gezwungen
Die Geschichte einer Ostarbeiterin

18. Januar 2018 | Von Jasper Steinlein
Die Belarussin Elvina Semakowa kämpft mit öffentlichen Auftritten noch immer unermüdlich gegen das Vergessen. Fotos: Jasper Steinlein

Elvina Semakowa wurde von den Nazis aus Belarus deportiert und zur Arbeit gezwungen. Nach dem Krieg wollte man sie zur Volksfeindin erklären lassen. Aber: Sie hat sich nie unterkriegen lassen und setzt sich mit ihren 91 Jahren noch immer für andere Ostarbeiter ein.

Von Jasper Steinlein, Minsk

79206. Das war ihre Nummer. Und 79205 – das war die Nummer ihrer Mutter. Elvina Semakowa zeigt auf das Foto an der Wand. Darauf zu sehen ist eine Frau mittleren Alters mit schulterlangem Haar. Auf einem Schild, das sie sich vor den Mantel hält, stehen Dortmund und 79206. Es war März 1944 als sie mit ihrer Mutter zur Zwangsarbeiterin wurde.

Sie war damals 17 Jahre alt. Ihre Heimat Belarus ist seit fast zwei Jahren von den Nationalsozialisten besetzt, der Vater kämpft schon seit den ersten Kriegstagen 1941 in der Roten Armee, die das Land gemeinsam mit Hunderttausenden Partisanen zurückerobern will. Immer öfter haben die Soldaten der Wehrmacht zuletzt Leute aus ihrem Heimatdorf Bychow, im Südosten von Belarus, zusammengetrieben und zur Arbeit eingeteilt: Die Jungen sollen Brennholz hacken, die Frauen den Boden in den Kasernen schrubben oder für die Deutschen kochen. „Es war ein Glück, wenn sie einen in die Küche schickten,“ sagt Semakowa, „da konnte man sich wenigstens die Gemüseschalen einstecken und mit nach Hause nehmen.”

Anfang März liegen die Temperaturen in Bychow oft unter dem Nullpunkt: Das Dorf friert und hungert, während die Rote Armee die Wehrmacht immer weiter zurückdrängt. Bald, so glaubt die Mutter, wird es hier schwere Kämpfe geben. Sie packt ihre Sachen und flüchtet mit der Tochter und dem fünfjährigem Bruder ins Nachbardorf, wo ihr Schwager lebt. Als sie dort ankommen, ist niemand zu Hause. Auf der Straße stehen deutsche Soldaten, die sie nach Deutschland deportieren und zur Arbeit zwingen – so wie insgesamt fast elf Millionen Menschen.

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Heute ist Elvina Semkowa 91 Jahre alt

Welche Gefühle sie damals hatte, beschreibt Semakowa mit keinem Wort, auch den Namen ihres jüngeren Bruders nennt sie nicht. Gefasst und aufrecht sitzt sie im historischen Gebäude der Geschichtswerkstatt Minsk, die auf dem Gelände des früheren jüdischen Ghettos steht. Deutsche und belarussische Historiker arbeiten die zumeist grauenvolle gemeinsame Geschichte auf. Eine ihrer Ausstellungen zeigt auch das Foto von Semakowas Mutter, das nach ihrer Ankunft in Dortmund entstanden ist.

Mehr als 1.000 Kilometer verschleppen die Nazis die Familie auf ihrer Deportation von der Heimat weg. In der Stadt Mogiljow werden Semakowa, ihre Mutter, der Bruder und die anderen Zuginsassen von Ärzten untersucht, im polnischen Bialystok sollen sie sich waschen und einsalben – „um Infektionen zu verhindern”, wie Semakowa sagt. Vor der Weiterfahrt kann die Mutter kreischend und weinend verhindern, dass der kleine Bruder von ihnen getrennt wird.

In einem Lager bei Wien müssen die Frauen aus einem Berg menschlicher Haare die Spangen und Kämme aussortieren und in Säcke packen, an einem anderen Tag einen Haufen Schuhe zu Paaren bündeln. Ein Pole bewacht die Arbeitenden und wird selbst von einem deutschen Aufseher mit der Peitsche geschlagen, als er sie näher an die Öfen auf dem Gelände führen will. Semakowa sieht zum ersten Mal die Krematorien, in denen die Nazis Menschen verbrennen und abgemagerte KZ-Insassen, die bei Regen auf dem Appellplatz stehen müssen.

Ihre Mutter mit der Registrierungsnummer 79205.

Sie selbst wird mit Mutter und Bruder weiterverschickt. Am 25. März kommt die Familie in Dortmund an, Semakowas Mutter und sie erhalten die Nummern 79205 und 79206. Ein Bus bringt sie schließlich nach Witten-Annen, in ein Außenlager des KZ Buchenwald, in dem auch sowjetische Kriegsgefangene interniert sind. Ab jetzt sind die Frauen sogenannte „Ostarbeiter“, als belarussische „Untermenschen“ für die Nazis kaum mehr wert als Tiere. Doch ihre Arbeitskraft wird dringend gebraucht.

Historiker schätzen, dass insgesamt drei bis fünfeinhalb Millionen Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion und Osteuropa als Ostarbeiter schufteten, hungerten und misshandelt wurden. Aus Belarus stammten mindestens 400.000 meist junge Mädchen und Frauen. Zu Beginn warben die Nationalsozialisten in den besetzten Gebieten scheinbar wohlwollend um Arbeitskräfte: Propagandaplakate gaukelten die Aussicht auf eine anerkannte und auskömmliche Beschäftigung vor. Da die Zahl der Bewerber aber nicht ausreichte, wurden sie bald systematisch zwangsrekrutiert, als Berg- und Fabrikarbeiter oder Hausangestellte.

Semakowa arbeitete im „Annener Gußstahlwerk“ des Rüstungskonzerns Krupp, zwölf Stunden am Tag. Auf dem Lagergelände sind Hunderte Menschen in Baracken interniert, streng nach Geschlechtern getrennt. In jedem Schlafsaal stehen zehn Stockbetten. Das Programm ist straff organisiert: um fünf Uhr aufstehen, frühstücken, um sechs Uhr beginnt die Arbeit, mittags gibt es eine dünne Brühe, um sechs Uhr abends ist Feierabend. Auf einer Informationstafel ist heute zu lesen, dass mindestens 600 Menschen die brutale Ausbeutung in Witten-Annen nicht überlebten.

Elvina Semakowa hält durch

Erst mischt Semakowa wochenlang Zement und Wasser, dann steuert sie den Kran in der Stahlgießerei, schließlich schleift und poliert sie Radträger für Flugzeuge. Mit ihrer Mutter, die an der Fräsmaschine Bauteile fertigt, wechselt sie die Schichten ab, damit der kleine Bruder nicht allein in der Baracke zurückbleibt. Verpflegung bekommt er ohnehin nicht – die beiden Frauen sparen sich sein Essen vom Mund ab.

Hin und wieder gibt ein Deutscher namens Walter ihrer Mutter ein Butterbrot für den Jungen mit. Auf die Frage, ob sie die Deutschen wegen ihrer Verbrechen hasst, sagt Semakowa: „Was bringt mir das schon? Einige waren gut, andere nicht.” Wie es den Ostarbeitern bis Kriegsende 1945 ergangen ist, hing im Wesentlichen von der Willkür ihrer Vorgesetzten ab. Wenn sie Löhne bekamen, waren diese deutlich niedriger als die der Deutschen und auf dem Reichsgebiet ohnehin nichts wert. Denn Ostarbeiter durften weder Bargeld noch Wertgegenstände besitzen und konnten nur mit eigenen Lebensmittelmarken in bestimmten Läden einkaufen.

Wer die Anweisungen der Aufseher nicht befolgte, dem drohte die Einweisung in ein Arbeitserziehungslager – die „Vernichtung durch Arbeit“ hatten die Nazis darin ausdrücklich vorgesehen. In den letzten Kriegstagen wurden viele von ihnen auf sogenannte Todesmärsche geschickt oder zu lebensgefährlichen Arbeiten eingeteilt.

Als bei einem Luftangriff das Lager abbrennt und die Stromversorgung ausfällt, sind die Insassen sich selbst überlassen. Semakowa rennt los, auf der Straße ins Wittener Stadtzentrum sieht sie Panzer und schwarze US-amerikanische Soldaten. Sie läuft zu einer nahegelegenen Mühle und schaufelt sich Mehl in ihr Kleid. Ihre Mutter erbeutet in einer Konditoreifabrik Marmelade und Kakaopulver, beide finden noch einen Topf. „Wir haben uns aus Mehl, Marmelade und Kakaopulver eine Suppe gekocht. Die war köstlich, weil wir so Hunger hatten”, erinnert sie sich noch heute.

Am 11. April 1945 ist der Krieg in Witten vorbei

Die US-amerikanischen Besatzer lösen das Lager auf und bringen die befreiten Arbeiter in Dortmund unter. Anderthalb Monate lang gibt es für die Familie wieder richtiges Essen – Käse, Butter, Kekse und Milch – und Kleidung: Semakowa erhält einen Sommermantel und hohe Schuhe. Dann beginnt die lange Fahrt zurück nach Belarus.

Doch auch dort wird das Leben zunächst nicht leichter für sie. In der Sowjetunion gelten ehemalige Ostarbeiter als Kollaborateure der Nazis und werden zu Volksfeinden stilisiert. Ihre Geschichten von Unterlegenheit und Verschleppung passen nicht zum Bild der tapferen Sowjetmenschen, die im „Großen Vaterländischen Krieg” den Sieg errungen haben. Auch Semakowa droht, geächtet zu werden. Bis zum Kriegsausbruch hatte sie nur sieben Jahre die Schule besucht und kann nicht studieren. Deshalb meldet sie sich an einer Berufsschule für Pädagogik nahe der Stadt Gomel an.

Andere ehemalige Zwangsarbeiter haben weniger Glück: Ihnen bleibt der Zugang zu Universitäten und staatlichen Arbeitsplätzen oder der Eintritt in sowjetische Aktivistengruppen wie die Komsomolzen – und damit die Chance auf gesellschaftliche Teilhabe – verwehrt. Nach Jahrzehnten harter, prekärer Arbeit leben deshalb viele frühere Ostarbeiter in Armut. Viele wollen vergessen und verdrängen, was sie während des Krieges erlebt haben.

Nach ihrer Ausbildung wird Elvina Semakowa Lehrerin an einer Volksschule in Gomel, lernt einen zwei Jahre älteren Offizier der Roten Armee kennen und heiratet ihn. Danach macht sie noch einmal eine Ausbildung zur medizinischen Fachangestellten und arbeitet bis zur Pensionierung in einem Labor. Dazwischen bringt sie zwei Töchter zur Welt.

Bei ihrer Pensionierung 2002 ist die Sowjetunion bereits zehn Jahre Geschichte. Etliche Opfer des NS-Regimes beginnen, Entschädigungen einzuklagen – und auch in Deutschland stellen sich zwölf Unternehmen ihrer Verantwortung und gründen die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“. Diese stellt Milliarden D-Mark bereit, um Wiedergutmachungen an Zwangsarbeiter und andere Opfer des Nationalsozialismus zu zahlen. Elvina Semakowa und ihr Bruder bekommen jeweils 15.000 Mark.

Zu dieser Zeit entsteht auch die Geschichtswerkstatt Minsk, in der Semakowa regelmäßiger Gast ist. Historiker haben ihre Geschichte in ein Archiv aufgenommen, das die Schicksale belarussischer NS-Opfer dokumentiert. Inzwischen ist sie sogar Vorsitzende des „Belarussian Public Association of Ostarbeiters”. Auch nach Deutschland ist die heute 91-Jährige noch mehrere Male zurückgekehrt. Unter anderem hat sie 2005 ein Pastor aus Witten zu einem Gedenkbesuch nach Nordrhein-Westfalen eingeladen. Dabei hat sie mit Erstaunen festgestellt, dass sich heute am Ort des früheren „Annener Gußstahlwerks“ ein Industriepark befindet.

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Von Jasper Steinlein, Hamburg

Jasper Steinlein wohnt in Hamburg, arbeitet als Redakteur für tagesschau.de und reist von dort regelmäßig in die russischsprachige Welt, unter anderem nach Russland, in die Ukraine und ins Baltikum. Davor war er Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung. Wichtigster Grundsatz als Journalist: „Reden mit“ statt „reden über“! Mehr unter: http://steinlein.online. Vor seinem Outing als Transmann war er 2017 bis 2020 Teil unseres Korrespondentinnen-Teams.

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Eva TempelmannMünster / Lima
Bis zu 40 Prozent der Frauen machen bei der Geburt ihrer Kinder gewaltvolle, teils traumatische Erfahrungen im Kreißsaal. Lena Högemann wirft in ihrem Buch „So wollte ich mein Kind nicht zur Welt bringen“ einen feministischen Blick auf die Geburtshilfe und zeigt Wege auf für mehr Selbstbestimmung.

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