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Gerettet, aber nicht erwünscht
Syrische Flüchtlinge in Jordanien

13. August 2015 | Von Mareike Enghusen
Naima mit ihrer fünfjährigen Tochter und dem achtjährigen Sohn in ihrem provisorischen Zuhause in Amman. Fotos: Mareike Enghusen

Hunderttausende Syrer sind vor dem Krieg nach Jordanien geflüchtet. Doch das ressourcenarme Land hat Mühe, sie zu versorgen. Außerdem wächst der Unmut der Einheimischen. Besonders prekär ist die Lage für Kriegswitwen wie Naima.

Von Mareike Enghusen, Amman

Auf Arabisch, sagt Naima, gibt es ein Sprichwort. Sinngemäß geht es so: „Wenn du auf Neuigkeiten wartest, dann höre deinen Kindern zu.“ Eines Morgens vor drei Jahren, als draußen vor ihrer Wohnung im syrischen Homs wieder einmal Schüsse fielen, da hörte ihr damals fünfjähriger Sohn Nabil plötzlich auf zu essen. „Iss auf“, sagte sie zu ihrem Sohn. „Aber ich habe Angst, dass sie meinem Papa wehtun“, antwortete der Junge. Am selben Tag, erzählt Naima, erhielt sie einen Anruf von einer Bekannten: „Dein Mann ist tot.“ Ein regimetreuer Scharfschütze hatte ihn erschossen. „Das Sprichwort war wahr geworden.“

Naima war 24 Jahre alt, als der Krieg in ihr Leben einbrach. Damals lebte sie in Homs, im Westen Syriens. Im Frühjahr 2011 geriet das Land in den Sog der arabischen Aufstände – und Homs wurde bald zum Brennpunkt der Rebellion: Zehntausende protestierten im April 2011 gegen das diktatorische Regime des Präsidenten Baschar Assad. Kurz darauf belagerten Soldaten die Stadt.

Naima, heute 28, sitzt in einem schmucklosen Büro in Amman, der Hauptstadt Jordaniens, während sie ihre Geschichte erzählt. Sie will ihren Nachnamen nicht nennen, auch ihr Gesicht nicht zeigen; die Furcht vor dem Regime des syrischen Präsidenten Baschar Assad und seinen Schergen verfolgt sie noch immer. Sie hat ein rundliches Gesicht mit weichen, fast kindlichen Zügen; die dicken Gläser ihrer Brille lassen ihre Augen größer wirken. Sie trägt ein schwarz-weißes Kopftuch und einen bodenlangen schwarzen Mantel. In den Räumen einer Hilfsorganisation hat Naima ein neues, provisorisches Zuhause gefunden. Doch es war ein langer Weg bis dorthin.

„Sie schossen auf jeden“

Kurz nach dem Ausbruch der Revolte nahmen die Scharfschützen des Regimes Stellung auf den Dächern ihres Viertels in Homs. „Sie schossen auf jeden“, erzählt sie. „Sie wollten eine Botschaft an die Leute richten: Selbst wenn du einfach vorbeigehst, töten wir dich.“ Naima versteckte sich, so oft es ging, mit ihren zwei kleinen Kindern im Keller des Hauses. „Manchmal gab es keinen Strom, manchmal kein Essen. Das Haus war wie ein Gefängnis.“ Doch welche Wahl hatte sie? Der Gang zum Geschäft konnte lebensgefährlich sein.
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Zuerst erwischte es ihren Bruder. „Er lief auf der Straße, ich stand auf dem Balkon und konnte ihn sehen. Ein Scharfschütze schoss auf ihn. Sein Gehirn explodierte.“ Er war 21 Jahre alt. Wochen später starb ihr Mann. Weder er noch ihr Ehemann hätten mit den Rebellen gekämpft, beteuert Naima. „Sie waren weder für noch gegen das Regime. Die Scharfschützen haben wahllos auf jeden gezielt.“

Naima floh ins Haus ihrer Schwiegereltern, in ein ruhigeres Stadtviertel. Als die Gefechte näherkamen, beschloss die Familie zu fliehen. Sie quetschten sich in ein Auto – Naima, ihre Kinder, ihre Schwiegereltern, ihre Schwägerin – und brachen auf in Richtung libanesische Grenze. Drei Stunden dauert die Fahrt nach Beirut in friedlichen Zeiten. Die Familie brauchte zehn. Denn auf dem Weg mussten sie mehrere Checkpoints der Armee passieren. „Jedes Mal, wenn ich die Soldaten sah, dachte ich: Jetzt ist es vorbei. Jetzt muss ich sterben“, erzählt Naima. Doch die Familie bestach die Soldaten, und die ließen sie ziehen.

Von Beirut aus reiste die Familie weiter nach Jordanien, das sie für sicherer hielten. In Al-Karak, einer Kleinstadt südlich von Amman, mieteten sie zusammen eine Wohnung. Von der jordanischen Regierung erhielten sie Lebensmittelgutscheine, von denen sie leidlich leben konnten. Nach anderthalb Jahren starb Naimas Schwiegervater. Ihre Schwiegermutter zog nach Saudi-Arabien zu entfernten Verwandten. Zusammen mit ihren zwei Kindern fand Naima Zuflucht in dem Hilfszentrum in Amman. „Hier fühle ich mich sicher“, sagt sie. „Zum ersten Mal, seitdem ich Syrien verlassen habe.“

In Jordanien leben mehr als 630.000 syrische Flüchtlinge

Die Hilfsorganisation „Homs League Abroad“, die die Unterkunft unterhält, wurde von einer Gruppe syrischer Ärzte gegründet, die selbst aus Homs stammen. Sie ist eine von zahlreichen Nichtregierungsorganisationen in Jordanien, die versuchen, die Not der syrischen Kriegsflüchtlinge zu lindern.

Und Hilfe ist nötig. Laut Angaben der UN leben rund 630.000 syrische Flüchtlinge in Jordanien, aber das sind nur die offiziell Registrierten – die echte Zahl ist nach gängigen Schätzungen doppelt so hoch. Nur ein Fünftel der Flüchtlinge lebt in Camps wie dem international bekannten Zaatari; die übrigen wohnen in Städten, die meisten in Amman. Wer es sich leisten kann, mietet eine Wohnung, andere finden Zuflucht bei Verwandten oder in Unterkünften diverser Hilfsorganisationen.

Für das kleine Jordanien ist der Flüchtlingsstrom eine gigantische Herausforderung. Das kleine Land ist arm an natürlichen Ressourcen wie Wasser und Öl und stark abhängig von ausländischer Unterstützung. Die offizielle Arbeitslosigkeit liegt bei zwölf Prozent, wird aber auf 30 Prozent geschätzt.

Diese Daten muss man kennen, um zu begreifen, was es für Jordanien bedeutet, Hunderttausende aufzunehmen, die oft nicht mehr haben als die Kleider, die sie am Leib tragen. Inzwischen machen die Syrer mindestens ein Zehntel der Gesamtbevölkerung aus – eine Zahl, die die Flüchtlingsdiskussion in Deutschland in ein anderes Licht rückt. Zum Vergleich: Seit Ausbruch des Krieges 2011 kamen bis Anfang 2015 rund 79.000 Syrer in die Bundesrepublik – das sind 0,1 Prozent der deutschen Bevölkerung. Und dabei ist Deutschland im Vergleich zu den meisten anderen EU-Staaten noch großzügig bei seiner Aufnahmepolitik.

„Jordanien zeigt weiterhin Gastfreundschaft (gegenüber den syrischen Flüchtlingen, Anm. d. Red.), trotz der gravierenden Belastung“, heißt es lobend in einem Bericht des Flüchtlingswerks der UN. Und wahrscheinlich ist allein die Tatsache, dass Jordanien die Grenzen zu Syrien offenhält, schon Grund zur Anerkennung – der Libanon hat kürzlich eine Visumspflicht für Flüchtlinge eingeführt, die den Syrern die Einreise erschwert.

Dennoch ist die Lage vieler Syrer in Jordanien prekär. Registrierte Flüchtlinge haben zwar Anspruch auf Hilfe: Von den UN erhalten sie Geld oder Lebensmittelgutscheine, von der Regierung kostenlosen Zugang zu grundlegender medizinischen Versorgung und zu Schulen. Doch die Hilfe, so heißt es in einer Studie der „Ärzte ohne Grenzen“ zur humanitären Lage der Flüchtlinge in Jordanien, reicht oft nicht aus.

Viele Syrer dürfen nicht arbeiten

„Das Problem ist, dass viele Syrer nicht arbeiten dürfen“, sagt Mohammad Tahhan von „Syria Relief and Development“, einer weiteren Hilfsorganisation in Amman. „Sie müssen eine Genehmigung von der jordanischen Regierung bekommen, aber das ist schwer. Viele arbeiten deshalb inoffiziell, in Geschäften oder Restaurants. Aber wenn die Polizei sie erwischt, kann es passieren, dass sie zurück nach Syrien geschickt werden.“

Dazu treibt viele Flüchtlinge und ihre Helfer eine weitere Sorge um: dass die Stimmung in der Bevölkerung kippen könnte. Auf den Straßen, in den Cafés und in den Taxis Ammans hört man Beschwerden über die syrischen Flüchtlinge, die, so heißt es, die Mieten in die Höhe treiben, Jobs wegnehmen, stehlen und sich prostituieren. Laut einer Umfrage würden zwei Drittel der Jordanier am liebsten die Grenze zu Syrien schließen.

„Manche Menschen meinen, die Syrer bekommen zuviel Unterstützung“, bestätigt Muhammad Tahhan, der selbst 2012 aus Syrien kam. „Ich selbst hatte noch nie Probleme mit Jordaniern. Aber ich habe ein paar Geschichten gehört von Syrern, die beschimpft wurden.“ Der frühere Bürgermeister und Gesundheitsminister Mamdouh Abbadi, der sich Hoffnungen auf das Amt des Premierministers macht, sagte vor kurzem in einem Interview: „Warum nehmen wir Flüchtlinge auf? Wir sollten das nicht tun, wir haben nicht die Mittel, sie zu versorgen.“

Jordanische Bevölkerung ist überfordert

Auch Naima hat schon die Unmut der Einheimischen zu spüren bekommen. Als sie kürzlich ein Taxi ins Stadtzentrum nehmen wollte, erzählt sie, verlangte der Fahrer zwei jordanische Dinar für eine Strecke – doppelt soviel wie üblich. „Gott wird dich bestrafen, denn das ist nicht fair“, sagte sie dem Fahrer. Der antwortete: „Möge Gott diejenigen verfluchen, die dich hierher gebracht haben.“ Seitdem vermeidet sie es, auf die Straße zu gehen.

Für Frauen wie sie, die ihren Mann im Krieg verloren haben und nun allein für sich selbst und ihre Kinder sorgen müssen, ist die Lage besonders schwierig. In ihrer Hilfsunterkunft bekommen die Frauen immerhin Koch- und Nähkurse, und sie stellen Lebensmittel her, syrisches Gebäck und eingelegte Auberginen, die sie an Bekannte und Sympathisanten der Einrichtung verkaufen. Zusammen mit ihrer fünfjährigen Tochter und ihrem achtjährigen Sohn schläft Naima in einem etwa 15 Quadratmeter großen Zimmer. Küche und Bad teilt sie sich mit zwei weiteren Frauen und deren Kindern, dazu gibt es eine Art Wohnzimmer mit Matratzen auf dem Boden.

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In der Hilfsunterkunft stellen die Frauen traditionelle syrische Lebensmittel wie eingelegte Auberginen her.

„Wir leben hier zusammen wie eine große Familie“, sagt Naima. Lockige Kinder mit dunklen Augen tollen zwischen den Beinen der Erwachsenen herum. Für einen Moment lang wirkt die Notunterkunft wie eine fröhliche Wohngemeinschaft. Fast könnte man vergessen, welche traumatischen Ereignisse diese Menschen hier zusammengebracht haben, so viele Kilometer entfernt von ihrer Heimat.

Wenn er groß ist, möchte Sohn Nabil einmal Arzt werden, erzählt Naima. Er wolle den Menschen helfen, die von Raketen zerrissen wurden, in ihrer Straße, zu Hause in Homs. Nachdem Assads Truppen gewütet haben, lagen Arme, Beine und Hände verstreut auf dem Asphalt. Tausende syrischer Kinder bekommen diese Bilder wohl nie wieder aus ihrem Kopf.

Zwei Jahre können sie noch in der Unterkunft bleiben, dann wird Nabil zu alt – nur Jungen bis zu zehn Jahren dürfen dort wohnen. Und danach? Naima schmiedet keine Pläne für ihr neues Leben in Jordanien, sie träumt von Syrien, trotz allem. „Ich hoffe, wir können irgendwann zurückzukehren.“

Doch in ihrer Heimat tobt immer noch Krieg. Noch ist überhaupt nicht abzusehen, wann und wie die Kämpfe gestoppt werden können – und was danach von dem Staat, der einmal Syrien war, übrig sein wird. Nur soviel scheint sicher: Naima und all die anderen Millionen syrischer Flüchtlinge werden lange warten müssen, bis sie ihre Heimat wiedersehen.

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Von Mareike Enghusen, Tel Aviv

Mareike Enghusen berichtet als freie Auslandsreporterin über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Nahen Osten, vor allem aus Israel, Jordanien und den palästinensischen Gebieten. Mehr unter: http://www.mareike-enghusen.de.

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Eva TempelmannMünster / Lima
Bis zu 40 Prozent der Frauen machen bei der Geburt ihrer Kinder gewaltvolle, teils traumatische Erfahrungen im Kreißsaal. Lena Högemann wirft in ihrem Buch „So wollte ich mein Kind nicht zur Welt bringen“ einen feministischen Blick auf die Geburtshilfe und zeigt Wege auf für mehr Selbstbestimmung.

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