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„Es gibt so viele Geschichten in Gaza“
Interview mit Filmemacherin Razan Madhoon

27. September 2017 | Von Mareike Enghusen
Die Filmemacherin Razan Madhoon (links) hat ihr Kopftuch abgenommen und damit eine landesweite Debatte ausgelöst. Fotos: privat

Die palästinensische Filmemacherin Razan Madhoon sagt: „Bei keinem anderen Thema urteilen die Menschen so schnell, als wenn es um Frauen geht.“ Die 29-Jährige löste in ihrer Heimat Gaza einen Skandal aus, als sie öffentlich ihr Kopftuch abnahm. Unsere Korrespondentin Mareike Enghusen hat sie interviewt.

Frau Madhoon, wann fiel die Entscheidung, das Kopftuch – den Hijab – abzulegen?

Razan Madhoon: Der Hijab spielte in Gaza nicht immer eine so große Rolle wie heute. Als ich ein kleines Mädchen war, gingen viele Frauen ohne Hijab auf die Straße. Meine Mutter hat erst mit 40 Jahren angefangen, ihn zu tragen. Meine Familie ist nicht religiös, mein Vater war früher sogar Kommunist. Ich habe mit 16 entschlossen, den Hijab zu tragen. Zwar war ich nicht besonders gläubig, aber die meisten Mädchen in meiner Klasse trugen ihn – und in diesem Alter reagiert man empfindlich auf sozialen Druck. Mein Vater war anfangs dagegen, aber ich blieb stur.

Mit 17 habe ich mich in der Islamischen Universität für einen Bachelor in Journalistik eingeschrieben. Das ist eine religiöse Universität, deshalb schreibt sie das Tragen des Hijabs vor. Als Studentin begann ich, an vielen religiösen Vorschriften zu zweifeln, allerdings nur insgeheim – Religion ist ein sensibles Thema, ich hatte Angst, offen darüber zu sprechen. Zuletzt fühlte ich mich mit dem Hijab richtig unwohl: als würde der Stoff mich ersticken, als wäre ich damit nicht ich selbst. Eine Weile spielte ich mit dem Gedanken, Gaza zu verlassen und den Hijab erst draußen abzunehmen, weil ich die Reaktionen anderer Menschen fürchtete. Aber dann habe ich 2015 beschlossen, es in Gaza zu tun, anstatt davonzulaufen – ich konnte den Hijab einfach nicht mehr ertragen.

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Wie reagierten die Menschen in Ihrem Umfeld?

Ich habe ein Selfie von mir ohne Kopftuch auf Facebook gestellt. Meinen engen Freunde reagierten gelassen, manche bestärkten mich sogar. Auch mein Mann unterstützte mich: Er wusste, wie unwohl ich mich mit dem Hijab gefühlt hatte. Viele andere Menschen allerdings beschimpften und bedrohten mich. In den ersten drei Tagen schrieben mir tausende Menschen auf Facebook, beleidigten mich und meinen Mann, kommentierten meine Fotos und schickten mir Nachrichten wie „Du verleitest die Menschen zu schlechten Gedanken“, „Du bist eine Schlampe“ oder „Schande über dich!“ Von einigen Frauen erhielt ich in privaten Nachrichten aber auch Zuspruch: „Du bist so mutig, du hast getan, was ich mich nicht traue zu tun.“

Ich arbeitete zu der Zeit als Videojournalistin für eine feministische Organisation. Auch meine Organisation wurde beschimpft und bedroht, nachdem ich den Hijab abgelegt hatte. Ein paar Lokalreporter riefen mich an und wollten mich interviewen, aber ich lehnte ab, weil ich wusste, in welchen Kontext sie meine Geschichte stellen würde. Daraufhin schrieben sie ihr eigenes Stück, in dem sie mich beleidigten: Ich würde versuchen, die Mädchen in Gaza mit liberalem Gedankengut zu beeinflussen.

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Warum ist die Kopftuchfrage derart emotional besetzt?

Seit Hamas 2007 an die Macht gekommen ist, hat Gaza sich verändert, die Gesellschaft ist religiöser geworfen. Und bei keinem anderen Thema urteilen die Menschen so schnell, als wenn es um Frauen geht. Das ist tief in unserer Kultur verankert: Die Frau muss ihre Moral und ihre Ehre bewahren. Sie muss sich verschleiern, züchtig sein, ihre Jungfräulichkeit bewahren.

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2015 zogen Sie für ein Filmstudium nach Edinburgh. War das auch eine Flucht vor dem sozialen Druck, den Sie erlebten?

Nicht nur. Schon bevor ich den Hijab abnahm, hatte ich mich für Stipendien beworben, weil ich in Großbritannien studieren wollte. Kurz darauf bekam ich die Zusage. Im September 2015 zog ich nach Edinburgh, um dort Filmregie zu studieren. Inzwischen sind mein Mann und meine zwei Töchter mir nachgezogen und wir haben einen Asylantrag gestellt. Darin haben wir auch die Drohungen erwähnt, die wir erhalten. Meine Töchter sind jetzt vier und acht Jahre alt, und ich will, dass sie in keiner Weise das Gefühl haben, sich für sich selbst schämen zu müssen. Als meine ältere Tochter vier Jahre alt war, schickte ich sie in Gaza in den Kindergarten. Weil es sehr heiß war, zog ich ihr am ersten Tag ein kurzes Röckchen an. Daraufhin sagte die Erzieherin zu mir, meine Tochter müsse in Zukunft lange Unterhosen unter ihrem Rock tragen – weil sie ein Mädchen ist und mit Jungs spielt. Wie kann man nur auf solche Gedanken kommen? So bringt man schon kleine Mädchen dazu, sich unwohl in ihrem Körper zu fühlen!

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In Gaza haben Sie als Videoreporterin gearbeitet, in Edinburgh Regie studiert. Behandeln Sie diese Themen auch in Ihren Filmprojekten?

Als Abschlussprojekt meines Studiums in Edinburgh habe ich einen Kurzfilm über eine Familie in Gaza gedreht, in dem es um ein Mädchen geht, das einen kranken Hund pflegt. Auch dafür habe ich einige aggressive Kommentare erhalten. Im Film gibt es eine Szene, in dem der Bruder die junge Frau anweist, ihr Kopftuch tiefer zu ziehen. Später schiebt sie es heimlich wieder höher, so dass man ihren Haaransatz sieht. Eine Frau aus Gaza schrieb mir daraufhin auf Facebook, ich hätte ihre Tochter dazu ermutigt, ihr Kopftuch abzulegen – und ich würde deshalb in der Hölle brennen.

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Worum soll es in Ihrem nächsten Film gehen?

Ich habe so viele Ideen, ich brauche nur finanzielle Unterstützung. Die wenigen existierenden Filme über Palästina drehen sich immer um die Besatzung und den Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis. Natürlich ist das ein wichtiges Element in unserem Leben; wir sind jeden Tag mit der Besatzung konfrontiert. Aber ich möchte unser soziales Leben zeigen. Wenn die Menschen an Gaza denken, dann fallen ihnen zuerst Bomben und Kriege ein, aber sie wissen nichts über die Menschen dort, ihr Leben und ihre Hoffnungen. Gaza ist ein dreidimensionaler Ort. Es gibt so viele Geschichten dort, die nie erzählt wurden! Das zu tun, das ist mein Ziel.

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Von Mareike Enghusen, Tel Aviv

Mareike Enghusen berichtet als freie Auslandsreporterin über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Nahen Osten, vor allem aus Israel, Jordanien und den palästinensischen Gebieten. Mehr unter: http://www.mareike-enghusen.de.

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Eva TempelmannMünster / Lima
Bis zu 40 Prozent der Frauen machen bei der Geburt ihrer Kinder gewaltvolle, teils traumatische Erfahrungen im Kreißsaal. Lena Högemann wirft in ihrem Buch „So wollte ich mein Kind nicht zur Welt bringen“ einen feministischen Blick auf die Geburtshilfe und zeigt Wege auf für mehr Selbstbestimmung.

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