Lerne inspirierende Frauen aus der ganzen Welt kennen.

Lerne inspirierende Frauen weltweit kennen.

Die Lichtbringerinnen
Wie Analphabetinnen in Indien Solar-Technik beherrschen lernen

13. April 2016 | Von Lea Gölnitz
Frauen aus ganz Indien werden in einem sechsmonatigen Kurs zu Solar-Ingenieurinnen ausgebildet. Foto: Florian Lang

In dem kleinen Dorf Tilonia werden im Barefoot College Frauen aus der ganzen Welt darin ausgebildet, wie sie ihre Heimatdörfer mit Solarstrom versorgen können. Das Besondere dabei: Sie können weder lesen noch schreiben – und die meisten von ihnen haben noch nicht mal eine gemeinsame Sprache. 

Von Lea Gölnitz, Neu-Delhi

Bacchi Devi weiß nicht genau, wie alt sie ist. Sie vermutet über 30, vielleicht auch über 40. In ihrem Heimatdorf bestellt sie ein kleines Stück Land. Ihr Ehemann ist Rikschafahrer in Neu-Delhi und schickt ab und zu Bargeld. Bacchi hat nie eine Schule besucht, kann weder lesen noch schreiben und hat keine Arbeit. Doch das soll sich jetzt ändern.

Sie zog kürzlich mit ihrem Sohn nach Tilonia. Er besucht die Dorfschule, während seine Mutter an sechs Tagen in der Woche jeweils von neun bis 17 Uhr zur “Solar-Ingenieurin” ausgebildet wird. Nach dem Abschluss der Ausbildung bekommt sie Solarzellen und Equipment für jeden Haushalt in ihrem Dorf. Sie ist dann für mindestens fünf Jahre für die Installation, Reparatur und Wartung der Solaranlagen verantwortlich. Die Stelle wird von der Bezirksregierung bezahlt – damit haben die meisten Frauen zum ersten Mal in ihrem Leben ein ausreichendes Einkommen.

Zusammen mit 34 weiteren Frauen aus ganz Indien nimmt sie an dem sechsmonatigen Solartechnik-Training teil. Die Frauen leben auf dem Campus des „Barefoot College“ in Tilonia. Das Dorf im Bundesstaat Rajasthan ist nicht an das öffentliche Stromnetz angeschlossen. Es versorgt sich komplett selbst – mit eigenem Solarstrom, der die 40 Computer, mehr als 60 Ventilatoren und die Lampen am Laufen hält.

Fast ein Drittel der Inder haben keinen Zugang zu Strom 

Bacchi aus dem ostindischen Staat Bihar lebt ohne Strom, so wie mehr als 300 Millionen Menschen in Indien. Bihar liegt sozial und wirtschaftlich gesehen Jahrzehnte hinter anderen indischen Bundesstaaten zurück. Mehr als 85 Prozent der Biharis leben auf dem Land und nicht einmal die Hälfte der Frauen sind jemals zur Schule gegangen. Die Menschen in diesem Staat sind sehr arm und zugleich sehr konservativ – wenn schon ein Familienmitglied zur Schule geschickt wird, dann möglichst ein Sohn.

Die Dorfgemeinschaft in Tilonia betreibt das „Barefoot College“ und arbeitet seit über 40 Jahren an Lösungen für die Probleme in ländlichen Gemeinden. Ziel ist es, das Leben in den Dörfern nachhaltig zu verbessern, sodass die Menschen unabhängig von öffentlicher Versorgung leben können. Seit 1989 konzentriert sich die ungewöhnliche Schule auf die Nutzung der Sonnenenergie, um Zugang zu Strom in den abgelegenen ländlichen Gebieten Indiens zu ermöglichen.

Um Armut und Landflucht in die Slums der Großstädte zu verhindern, müsse das Leben in den Dörfern verbessert und gewöhnlichen Dorfbewohnern zugetraut werden, Lösungen für ihre Probleme zu entwickeln. Das ist die Philosophie des „Barefoot Colleges“. Dabei zeigt sich sein Gründer Bunker Roy enttäuscht, dass die indische Regierung das Projekt in Tilonia nicht auf das ganze Land ausweitet.

Im „Barefoot College“ glaubt man nicht an Universitätsabschlüsse. Im Gegenteil – zu viele Details machen das Training nur komplizierter. Die Frauen lernen den Aufbau des Stromkreises durch Wiederholung, Versuche und Bilder. Elektrischen Widerstand erkennen sie nur an einer bestimmten Farbgebung. Einen Stromkreis erklären können sie nicht. Aber das sei auch nicht nötig, erklärt Ramnivas, der seit über 30 Jahren als Puppenspieler in Tilonia arbeitet und für die Öffentlichkeitsarbeit des Projekts zuständig ist.

Bild_8_LadereglerBacchi bastelt an der Ladeschaltung, die später in das Ladegerät für die Solarzelle eingebaut wird. Sie steckt die kleinen Teile auf der kleinen Platte zusammen, lötet und zerlegt dann wieder alles. Sie kann sich keine Notizen machen und die Arbeitsschritte aufschreiben. Also wiederholt sie die Abfolge, sooft wie es nötig ist, bis sie jeden Handgriff auswendig kennt. Es geht schleppend voran.

Die ersten fünf Wochen Ausbildung begannen damit, die Namen der Werkzeuge zu lernen. „Ich lerne Solartechnik, so wie Kinder schreiben lernen“, erklärt sie. Sie war einmal in ihrem im Leben in Neu-Delhi, um ihren Mann zu besuchen. Andere Orte in Indien kennt sie nicht. Ihre Bedenken über den Aufenthalt in Rajasthan sind noch nicht ganz verflogen, aber zunächst ist sie erleichtert über das Essen – Roti und Reis. So wie in ihrer 1.200 Kilometer entfernten Heimat.

Von Zentralamerika nach Indien

Für Margarita Ortz aus Guatemala war das Ganze noch sehr viel aufregender. Ihre Bezirksregierung wurde von der indischen Botschaft in Guatemala auf das Programm in Tilonia aufmerksam gemacht. Daraufhin wurden mehrere ältere Frauen in ihrem Dorf gefragt, ob sie bereit wären, für sechs Monate nach Indien zu gehen und etwas ganz Neues zu lernen. Die 52-Jährige durchläuft das gleiche Programm wie Bacchi in einer weiteren Klasse von 37 Frauen aus Asien, Südamerika und Afrika.

Margarita Ortz hatte noch nie zuvor von Indien gehört und wusste auch nicht, was Solarenergie ist. Die anderen Frauen hatten Angst vor dem Flug und wollten ihre Familien nicht zurücklassen. Auch Margarita hatte nicht wirklich eine Ahnung, auf was sie sich einlassen würde. Aber die Aussicht auf einen Job und Ansehen in ihrem Dorf motivierten sie.

Die 52-Jährige lötet am Ladeschalter, den sie später an einem Ende mit einer Solarzelle und am anderen mit einer Lampe verbindet. Sie ist frustriert, mitunter genervt und macht viele Pausen. Auch die anderen Frauen sitzen etwas verloren im Klassenraum und hantieren an der kleinen grünen Platte mit den Drähten herum. Die Teepause und der Besuch beim Augenarzt in der nächsten Stadt scheinen willkommene Unterbrechungen des Lernalltags zu sein.

„Es ist alles so kleinteilig und kompliziert“, sagt Ortz. Sie hat sich bereits mehr als einmal an dem Lötkolben verbrannt. Trotz Überforderung erinnert sie sich an ihre Motivation und erklärt: „In meinem Dorf haben wir keinen Strom. Ich bin hierher gekommen, um Licht zu erzeugen.“ Sie stammt aus einem Dorf im Bezirk San Miguel Petapa in Guatemala. Die Hälfte der Bevölkerung dort lebt unterhalb der Armutsgrenze und die Alphabetisierungsrate für erwachsene Frauen liegt bei 76 Prozent. Margarita Ortz ist Hausfrau, hat nie eine Schule besucht und kann weder lesen noch schreiben.

Außer ihren drei Landsleuten und zwei Kolumbianerinnen spricht in Tilonia niemand Spanisch. Ihre indischen Lehrerinnen haben zum größten Teil auch nur das „Barefoot College“ als Schule besucht. Sie sprechen Hindi und ein wenig Englisch. Mit beidem kann Margarita nichts anfangen. „Ich verstehe nicht, was die Leute sagen. Am Anfang war ich sehr besorgt und fühlte mich verloren. Es war sehr schwierig“, beschreibt sie ihre Erfahrungen der ersten Wochen. Über die Ausbildung sagt sie, dass sie ihr sehr schwer falle. Die Arbeit an dem Laderegler könne sehr frustrierend sein. „Aber das hier wird mein Leben verändern. Hat es eigentlich schon. Das wird sehr viel in meinem Dorf verändern“, erklärt sie zuversichtlich.

Solartechnik ist ein Job für Frauen

Im „Barefoot College“ werden nur Frauen ausgebildet. Männer würden in die Städte ziehen und mit ihnen ginge das Wissen für ihre Dörfer verloren. Nach den Erfahrungen bleiben Frauen mit ihren Kindern oder alten Angehörigen, die sie pflegen müssen, eher in den Dörfern – auch wenn es dort keine Einkommensquelle gibt. Durch die Qualifikation als Solar-Ingenieurin erhalten sie ein regelmäßiges Einkommen, Ansehen in ihrer Gemeinde und sie verbessern die Lebensqualität aller Dorfbewohner.

Margarita Ortz kennt keine Ingenieure und wusste bis vor kurzem nichts über Solarenergie. Dass die sogenannten MINT-Fächer – Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik – generell als Männerdomäne gelten, ist ihr auch nicht bekannt. Auf die Frage, mit wem sie das Wissen teilen wird, sagt sie: „Solartechnik ist ein Job für Frauen. Ungeeignet für Männer. Ich werde die Technik nur Frauen beibringen.“

Nach sechs Monaten ist die Ausbildung zu Ende

Fünf Monate später sind die Frauen wie ausgewechselt. Die Arbeitsatmosphäre ist still und konzentriert. Alle sitzen an ihren Plätzen und sind in ihre Arbeit vertieft. In den vergangenen Monaten haben sie gelernt, die Solarzellen nach der Sonne auszurichten, sie zu reparieren und zu warten. Für die Praxis ging es in die umliegenden Dörfer, in denen ihre Vorgängerinnen bereits Solartechnik installiert haben.

In einer Woche kehren sie wieder zurück nach Hause. Jetzt ist die letzte Chance, Unklarheiten auszuräumen und Wissen zu vertiefen. Die Inderinnen haben die Möglichkeit, bei Problemen oder wenn sie eine Auffrischung brauchen, noch einmal nach Tilonia zurückzukehren. Die Frauen vom anderen Ende der Welt können das nicht. Sie sind weitestgehend auf sich allein gestellt und für den Erfolg des Projekts in ihrem Dorf verantwortlich.

Trotz des Drucks ist die Stimmung in der Klasse der internationalen Frauen gelöst, die Vorfreude auf zu Hause überwiegt. Die Kinder! Der Ehemann! Die Freunde! Das Essen! Alle sind sich einig, dass sie das indische Brot Roti vorerst nicht vermissen werden. Ihnen ist aber auch klar, dass sie sich, nachdem sie sechs Monate lang zusammen gewohnt, gegessen und gelernt haben, wahrscheinlich nie wieder sehen werden. Margarita Ortz hat in ihrer Zeit in Tilonia kaum ein Wort Hindi oder Englisch gelernt. Sie nennt die Werkzeuge zwar „screw driver“, „wire cutter“, „burner“, aber auf die Frage, was für eine Sprache das sei, sagt sie: „Das ist Ingenieurssprache.“

 Weitere Informationen:

Das „Barefoot College“ ist eine Nichtregierungsorganisation (NGO) mit Sitz in Rajasthan, Indien. Die Organisation wird von der indischen Regierung und internationalen Organisationen sowie Privatspenden gefördert. Um Frauen für die Solar-Ausbildung zu rekrutieren, nutzt das College ein weltweites Netzwerk von NGOs, Partnern und indischen Botschaften. Das Solarprogramm gibt es seit 1989 und bisher wurden mehr als 740 Frauen aus 72 Ländern ausgebildet. Sie haben zusammen Licht und Strom in ungefähr 40.000 ländliche Haushalte weltweit gebracht. 

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Von Lea Gölnitz, Neu-Delhi

Lea Gölnitz arbeitete für das entwicklungspolitische Nachrichtenportal Entwicklungspolitik Online und befasst sich vor allem mit Gender- und Frauenrechtsthemen. Nachdem sie 2012 in Indien bei einer Frauenrechtsorganisation gearbeitet hatte, ist sie immer wieder dorthin gereist und lebte 2015 bis 2018 in Neu-Delhi. Anschließend war sie Projektleiterin für die Friedrich-Ebert-Stiftung in Singapur. Seit zwei Jahren führt sie das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Bangkok.

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Eva TempelmannMünster / Lima
Bis zu 40 Prozent der Frauen machen bei der Geburt ihrer Kinder gewaltvolle, teils traumatische Erfahrungen im Kreißsaal. Lena Högemann wirft in ihrem Buch „So wollte ich mein Kind nicht zur Welt bringen“ einen feministischen Blick auf die Geburtshilfe und zeigt Wege auf für mehr Selbstbestimmung.

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